Willkommen im Wegwerfwunderland

„Wenn hier im Kühlhaus nur Véronique arbeiten würde, dann würden wir wohl gar nichts mehr rauswerfen“, grinst Arnaud, während sich hinter der Kamera Regisseur Valentin Thurn das Lachen nicht verkneifen kann. Arnaud ist zuständig für die Essensauslese der Pariser Tafel ANDES, die auf dem städtischen Großhandel stattfindet. Von allen dort weggeworfenen Lebensmitteln erhält ANDES nur einen kleinen Anteil. Nicht alle Lebensmittel, die weggeworfen werden, sind wirklich schlecht. In Wahrheit sind es die Wenigsten von ihnen. In den Industrienationen wird die Hälfte aller produzierten Nahrungsmittel vor ihrem Konsum bereits wieder entsorgt, weltweit ist es immer noch ein Drittel.

Allein in Deutschland landen jedes Jahr über 15 Millionen Tonnen Lebensmittel in der Mülltonne [1]. Abgefüllt wären das 500.000 LKW, die aneinandergereiht die Strecke Berlin-Peking ergeben würden [2]. „Laut einer Studie der Vereinten Nationen schmeißt jeder Deutsche im Schnitt 115 Kilogramm Nahrungsmittel pro Jahr in seine Mülltonne“, schrieb Marco Belser diese Woche in den Stuttgarter Nachrichten [3]. Ist das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten, landet ein Produkt oft im Müll. Das jährlich in Europa weggeworfene Essen würde zwei Mal ausreichen, um alle Hungernden der Welt zu ernähren [4]. Das erklärt uns jedenfalls aktuell Valentin Thurn in seinem Dokumentarfilm Taste the Waste.

Thurn dokumentiert die Verschwendung in ihren vollen Ausmaßen. Vom französischen Supermarkt, wo eine Woche vor Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums (MHD) alle Joghurte und ähnliche Produkte aussortiert werden, bis hin zur kamerunischen Bananenplantage, die das Land der umliegenden Kleinbauern usurpiert. Mit „Supermarkt“ ist bereits eines der entscheidenden Stichworte gefallen. In Deutschland entstand der erste Supermarkt 1949 in Osnabrück [5]. Anstatt beim Tante-Emma-Laden um die Ecke einzukaufen, griff nun das Selbstbedienungsprinzip. Für Umweltjournalist Stefan Kreutzberger „der erste wichtige Schritt hin zum Wegwerfwunderland“ [6].

Und durch die Selbstbedienung wird gekauft, was dem Kunden gefällt. Hier kommen besonders äußere Ansprüche zum Tragen, nach denen sich der Handel richtet. Ist der Durchmesser des Apfels zu klein, kommt er für den Verkauf nicht in Frage. Ist die Tomate zu rot oder nicht rot genug, kommt sie für den Verkauf nicht in Frage. Jede zweite Kartoffel könne er nicht verkaufen, klagt der Landwirt Friedrich Wilhelm Graefe zu Baringdorf in Thurns Film. Der Handel wünscht kleine, symmetrische, identische Kartoffeln. Sind sie zu groß, können sie nicht verkauft werden. Dabei sind die Erdäpfel einwandfrei. Ein Wahnsinn, dessen bekanntester Vertreter – die gewöhnliche Gurke – es vor die Europäische Union geschafft hat.

Als die EU auch den Verkauf krummer Gurken durchsetzen wollte, da mit ihnen biologisch alles in Ordnung ist, wehrte sich der Handel. Gerade Gurken lassen sich einfacher verpacken, da sie besser in Kartons passen würden als ihre krummen Artgenossen. Ist eine Gurke folglich krumm, wird sie wie die zu kleinen Äpfel, die zu großen Kartoffeln und die zu hellen Tomaten weggeworfen. Unterdessen wird in Afrika gehungert. „Unser Konsumverhalten findet offenbar völlig entrückt von der Realität statt“, schrieb Johannes Schnös für die Süddeutsche Zeitung [7], während Oliver Jungen in der FAZ konstatierte: „Wenn eine Gesellschaft jeden Respekt vor Lebensmitteln verliert, dann läuft etwas grundfalsch“ [8].

Die Worte gewinnen dann an erschütternder Bedeutung, werden sie den Bildern aus Taste the Waste gegenübergestellt. Eine ganze Ladung Orangen wird da auf dem Pariser Großhandel weggeworfen, weil einige der Früchte schon überreif sind. Auch Tomaten werden Palettenweise entsorgt, wenn sich in einer einzigen von ihnen ein verschimmeltes Exemplar findet. Véronique Abounà Ndong kann da nur den Kopf schütteln. Die gebürtige Kamerunerin wird täglich mit Nahrungsmittelimporten aus ihrer Heimat konfrontiert. „Meine Nachbarn in Kamerun, (...) die können sich noch nicht einmal ein kleines Paket Bananen leisten, so teuer sind die, und hier schmeißt man sie einfach weg“ [9].

Im kamerunischen Nyombé wird auf Bananenplantagen ebenfalls der Umfang der Bananen gemessen. Aus Europa erhalten die Kameruner Vorgaben wie dick die Bananen seien müssen und wie viele mindestens an einer Staude zu hängen haben. Da die Nachfrage am Obst nicht abnimmt, werden Kleinbauern wie André Foka von der Expansion der Plantage betroffen. Für Bananen reicht es hier vielen Familien ebenso wenig wie für Fleisch. Nicht ein Mal im Jahr kriegt Fokas Familie Fleisch auf den Teller, da es schlicht zu teuer ist. Derweil sind in Frankreich und Co. jeden Tag die Container voll mit Wurst, die weit vor ihrem Verlaufsdatum steht. „Das tut mir sehr weh“, klagt Véronique Abounà Ndong [10].

Gut 30 Prozent der gekauften Lebensmittel landen im Müll, was letztlich auch 30 Prozent Anteil der Ernährung an den weltweiten Treibhausgasen ausmacht. Denn im vergammelnden Müll bildet sich Methan, das „mehr als 35 Prozent der von Menschen verursachten Methan-Emissionen“ ausmacht [11]. Würden wir halb so viel Nahrungsmittel wegwerfen, könnten wir „ebenso viele Klimagase sparen, wie wenn wir jedes zweite Auto stilllegen“ [12]. Noch mal: Mit den – noch essbaren, wohlgemerkt – Nahrungsmitteln, die jährlich in Europa weggeworfen werden, ließe sich zwei Mal (!) jeder Hungernde stillen. Und würde das Essen nicht weggeworfen, gingen die Klimagase zugleich um einiges zurück.

Ihren Beitrag gegen das System leisten so genannte „Dumpster Diver“. Mülltaucher, die nachts die Container der Supermarktketten nach den noch essbaren Lebensmitteln durchforsten, die tagsüber weggeworfen wurden. Thurn beginnt Taste the Waste mit zweien solcher Mülltaucher in Wien, von denen der eine erklärt, er komme so zu 90 Prozent seiner Nahrungsmittel und müsse nur alle zwei Wochen für etwa 15 Euro einkaufen gehen. In Deutschland gibt es geschätzte 5.000 Mülltaucher, von denen manche durch ihre Geldeinsparungen sogar ihren Urlaub finanzieren [13]. Auch andere leisten ihren Beitrag, um effizienter mit der Lebensmittelverschwendung umzugehen.

So nutzt Jörn Franck in seiner Hamburger Biogasanlage die Methan-Emissionen des Lebensmittelmülls sinnvoll, wie auch Bäcker Roland Schüren aus seinem Abfall Energie gewinnt. Denn „eine Durchschnittsbäckerei wirft 10 bis 20 Prozent ihrer Tagesproduktion weg“ [14]. Also bis zu jedes fünfte Brot wird abends weggeschmissen. Jährlich sind das in ganz Deutschland 500.000 Tonnen. Schüren wiederum nutzt nun das nicht verkaufte Brot, um damit die Öfen seiner Bäckerei zu heizen. Ähnlich wird in Japan mit den Speiseabfällen verfahren. Dort erklärt Restaurantleiter Koyamas Masahiro, wie Speisereste zu Tierfutter verarbeitet werden. Hama-Pork nennt sich das – ist jedoch hier in Europa verboten.

Die weggeworfenen Nahrungsmittel dürfen weder containert [15] werden – denn auch Müll ist Eigentum –, noch ist erlaubt, sie durch Erhitzung zu Tierfutter weiterzuverarbeiten. Stattdessen müssen zusätzlich Nahrungsmittel aufgewendet werden, um die Tierzucht unterhalten zu können. Also Extrafutter produziert werden, um Tiere zu mästen, deren Fleisch nach Schlachtung ohnehin zu 30-50 Prozent nicht konsumiert wird. Und das Supermarkt-System zieht noch andere Konsequenzen nach sich. Eine Entfremdung des Menschen von seiner Nahrung, von Thurn exemplifiziert an einigen Beispielen aus den Vereinigten Staaten, einem der Länder mit dem größten Nahrungsverschleiß der Welt.

Der Durchschnittsamerikaner nimmt rund 3.800 Kalorien pro Tag zu sich, was die USA zu den weltweiten Spitzenreitern macht [16]. Über 65 Prozent aller Amerikaner sind infolgedessen übergewichtig und haben speziell zu gesundem Essen keine wirkliche Beziehung mehr. Eine junge Mutter verrät in Taste the Waste auf einem Food Market, dass sie bis vor kurzem noch nie grünes Gemüse gegessen hätte. Annie Novak, die einen Stadtgarten in New York unterhält, berichtet in Thurns Dokumentarfilm sogar von Besuchern, die Tomaten für Äpfel hielten. „Viele Kinder haben keine klare Vorstellung, wo ihr Essen herkommt“, sagt Andrew Coté, der auf den Dächern New Yorks seine Imkerei betreibt [17].

Ein Aspekt den Thurn bedauerlicherweise sträflich vernachlässigt, ist die Zusammensetzung des Lebensmittelmülls. Denn Nahrungsmittel werden hier nicht kompostgerecht entsorgt, sondern mitsamt ihren Verpackungen von Holz bis Plastik gemeinsam in die Container geworfen. Wie viel Müll sich auch hier noch vermeiden ließe, hatte Lucy Walker dieses Jahr in ihrem thematisch nahestehenden Dokumentarfilm Waste Land aufgezeigt. So lassen sich fast 3 Prozent des Mülls von Rio de Janeiro noch recyclen. Angesichts des Verpackungswusts den Taste of Waste dokumentiert, dürfte hier die Fallzahl noch viel höher ausfallen. Kritische Stimmen bleiben bei Valentin Thurn aber aus.

Dennoch liefert sein Dokumentarfilm viele interessante und informative Daten plus Fakten, benennt Zusammenhänge wie Konsequenzen und bietet schließlich auch Alternativen oder Lösungsansätze an. Zum Beispiel, das Mindesthaltbarkeitsdatum nicht falsch zu interpretieren oder wie mit all den Speiseresten sinnvoll zu verfahren wäre (in Taste of Waste zumeist durch Tafel-Verköstigungen – sei es auf einem italienischen Platz oder in einer Berliner Schule – dargestellt). So ist Thurns Film vermutlich der bedeutendste Dokumentarbeitrag des Jahres geworden, den es gilt, sich zu Herzen zu nehmen. Oder um  Brecht umzudeuten: „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“ [18].




Quellenangaben:

[1] vgl. Flyer zum Film „Taste the Waste“.
[2] ebd.
[3] Marco Belser (2011): Abfall macht satt. Im Müll nach Essen tauchen. In: Stuttgarter Nachrichten, erschienen am 05.10.2011, http://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.abfall-macht-satt-im-muell-nach-essen-tauchen.2d04cfe1-580b-47bb-a24a-c28b37dc595b.html (Stand: 07.10.2011).
[4] vgl. Flyer zum Film „Taste the Waste“.
[5] vgl. Stefan Kreutzberger und Valentin Thurn (2011): Die Essensvernichter. Warum die Hälfte aller Lebensmittel im Müll landet und wer dafür verantwortlich ist. Köln: Kiepenheuer & Witsch Verlag, S. 92.
[6] ebd.
[7] Johannes Schnös (2011): Die Spitze des Nahrungsberges. In: Süddeutsche Zeitung, erschienen am 09.09.2011, http://www.sueddeutsche.de/kultur/taste-the-waste-im-kino-die-spitze-des-nahrungsberges-1.1140926-2 (Stand: 08.10.2011).
[8] Oliver Jungen (2011): So produzieren wir den Hunger der Welt. In: Frankfurt Allgemein Zeitung, erschienen am 09.09.2011, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/kreutzberger-und-thurn-die-essensvernichter-so-produzieren-wir-den-hunger-der-welt-11132427.html (Stand: 08.10.2011).
[9] Kreutzberger/Thurn, S. 118.
[10] ebd.
[11] ebd., S. 147.
[12] ebd., S. 148.
[13] vgl. Belser.
[14] Kreutzberger/Thurn, S. 13.
[15] Das heißt aus Müllcontainern entwendet werden, wie beim Dumpster Diving.
[16] vgl. Statistik der Food and Agriculture Organization of the United Nations (FAO), Jahrbuch 2010, Tabelle D.1, http://www.fao.org/economic/ess/ess-publications/ess-yearbook/ess-yearbook2010/yearbook2010-consumption/en/ (Stand: 09.10.2011).
[17] Kreutzberger/Thurn, S. 236.
[18] Bertolt Brecht (1928): Die Dreigroschenoper. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2004. S. 67.


Szenenbilder „Taste the Waste“ © W-Film.