The crime of the century

Das einzige was noch schlimmer ist als im Gefängnis zu sitzen, ist wohl, des verurteilten Verbrechens unschuldig zu sein. Andy Dufresne verbrachte in The Shawshank Redemption fast zwei Jahrzehnte unschuldig hinter Gittern, ehe er die Flucht ergriff. Ganz legal ihres Verbrechens wurden dagegen vor zehn Jahren die fünf Männer freigesprochen, die 1989 als “Central Park Five” bekannt wurden. Als Jugendliche zwischen 14 und 16 Jahren sollen sie am Mittwoch, dem 19. April 1989, die damals 28-jährige Investmentbankerin Trisha Meili beim Joggen im Central Park von New York City schwer körperlich verletzt und vergewaltigt haben. Ein Jahr später wurden sie verurteilt – obwohl alle fünf von ihnen unschuldig waren.

Der Dokumentarfilmer Ken Burns widmete sich in The Central Park Five im vergangenen Jahr mit seiner Tochter Sarah Burns und ihrem Mann David McMahon jenem Fall, der 1989 für enormes Aufsehen gesorgt hatte. “A lot of people didn’t do their job”, blickt zu Beginn Jim Dwyer von der New York Times kritisch zurück. Und nimmt dabei auch sich und die Medien nicht von der Kritik aus. In einer Zeit hoher Kriminalität und Rassenspannungen in New York habe das Verbrechen an Meili, damals nur als „Joggerin“ bekannt, für Druck auf die Ermittler gesorgt. Derart hohen Druck, dass sie bereitwillig vier afroamerikanische und einen hispanischen Jugendlichen zu Geständnissen des Verbrechens nötigten.

Ende der 1980er Jahre war New York City laut dem renommierten Bürgerrechtler Al Sharpton “the capital of racial violence”. Einige Jahre zuvor hatte Crack den Big Apple erreicht und die Kriminalitätsrate hochschnellen lassen. New York City wurde “a completely schizophrenic, divided city”, so Dwyer. Der damalige Governeur Mario Cuomo ließ sich sogar zu der Aussage hinreißen: “None of us is safe”. Überfälle standen an der Tagesordnung, die meisten Bürger meldeten sie nicht einmal mehr der Polizei. Am Mittwochabend des 19. Aprils 1989 zog eine Gruppe von rund 30 Jugendlichen durch den Central Park, attackierte Obdachlose und belästigte andere Besucher. “Wilding” nannten die Teenager diese Aktionen.


Unter den Jugendlichen waren auch Antron McCray, Raymond Santana, Kevin Richardson, Yusef Salaam und Korey Wise – jene fünf Teenager, denen man wenige Stunden später die schwere Körperverletzung und Vergewaltigung der Joggerin vorwerfen würde. Über mehrere Stunden wurden die Jugendlichen auf der Wache gehalten. Wegen des Angriffs auf den Obdachlosen, so ihre Vermutung. Stattdessen warfen ihnen die Polizeibeamten die Tat an der Joggerin vor und stellten in Aussicht, sie könnten nach Hause gehen, wenn sie den Vorfall gestehen. Anschließend beschuldigten sich die Teenager gegenseitig – und widersprachen sich folglich nicht nur hinsichtlich des Tathergangs, sondern auch der Fakten.

“If he’d have given me a hundred names”, erzählt Raymond Santana, “I’d have put a hundred people at the crime scene”. Als er Jahrzehnte später sein damaliges Geständnis vorliest, kann er angesichts der Formulierungen nur mit dem Kopf schütteln. “A 14 year old boy doesn’t talk like this.” Doch die Ermittler wollten den Fall schnell klären, eine Vergewaltigung einer weißen Bürgerin durch farbige Teenager, die beinahe in Totschlag endete, erregte zu viel Aufhebens. “It was the crime of the century”, erinnert sich der damalige Bürgermeister von New York, Ed Koch. “Central Park was holy”, so das Ex-Stadtoberhaupt. Dwyer schätzt, es gab Ende der Achtziger “probably six murders a day”. Aber keinen Vorfall wie diesen.

Von den 5.242 Vergewaltigungen die 1989 in New York gemeldet wurden, erhielt keine so viel Aufmerksamkeit wie die von Trisha Meili. Wie sich herausstellte, waren die fünf Jugendlichen schlicht zur falschen Zeit am falschen Ort – und von der falschen Hautfarbe. Ein Jahr später führten die Suggestivgeständnisse zu ihrer Verurteilung, andere Beweise für ihre Schuld gab es nicht. Infolgedessen saßen die meisten von ihnen rund sieben Jahre im Jugendgefängnis, der Älteste, Korey Wise, aufgrund seiner 16 Jahre zur Tatzeit sogar fast zwölf Jahre bei den Erwachsenen. “My faith was gone”, beschreibt Santana, der nach seiner Entlassung auf die schiefe Bahn geriet, mit Drogen handelte und erneut verurteilt wurde.


Dass die fünf Jugendlichen seiner Zeit verhaftet und verurteilt wurden kann als Folge von unglücklichen Umständen und nachlässiger Arbeit gesehen werden. Damit sie nicht zu viel Lärm machten, schickte Santanas Vater die Jugendlichen an jenem Abend in den Central Park. “I feel guilt for it”, gesteht Raymond Santana Sr. mit Tränen in den Augen. Obschon er nicht wissen konnte, was sich wenige Stunden später ereignen würde, fühlt er sich verantwortlich. Hätte die Gruppe an jenem Abend auf das “wilding” verzichtet – nach eigenen Angaben waren McCray, Santana, Richardson, Wise und Salaam bei diesem lediglich Zuschauer –, wären die Teenager anschließend nicht verhaftet und somit verdächtigt worden.

Auf der anderen Seite standen nun die Ermittler, konfrontiert mit einer Vergewaltigung und wahrscheinlichen Tötung. Denn als Meili gefunden wurde, hatte sie 75% ihres Blutes verloren, die Ärzte konnten sich nicht erklären, wie sie noch am Leben war. “She was virtually dead”, sagt Dwyer. Ein derartiges Verbrechen, auch noch verübt im Central Park, in einer Stadt mit Rassenunruhen und hoher Kriminalitätsrate – wer schon mal Polizeiserien wie The Shield gesehen hat, dürfte erahnen, unter welchem Druck die Ermittler in einem solchen Fall stehen. Und dass auch mal Fälle abgeschlossen werden, wenn sie sich abschließen lassen. Selbst wenn nicht alle Fragen dazu passende Antworten erhielten.

Das Handeln der Ermittler und Staatsanwaltschaft im Fall der Central Park Five entschuldigt dies natürlich keineswegs. Dass sich die Geständnisse widersprechen, dürfte sich nicht erst 2003 gezeigt haben. Allerdings – und Dwyer hatte dies bereits selbst eingestanden – waren auch die Medien, Bürger und eigentlich alle, abgesehen von den Familienmitgliedern der Verdächtigen, nicht unschuldig in der Vorverurteilung der Jugendlichen. Die Macht der Masse zeigt sich selten so gut, wie im Fall von The Central Park Five. So war Yusef Salaam der einzige der fünf Teenager, der selbst kein Geständnis abgelegt hat – und dennoch waren die Beschuldigungen der übrigen vier ausreichend gewesen für seine Verurteilung.


Entgegen des recht reißerisch und temporeicher wirkenden Trailers ist die Rekapitulation der Ermittlungen und Verurteilungen der fünf Jugendlichen von Ken Burns eine relativ nüchterne Angelegenheit. Historiker und Soziologen geben nebst Jim Dwyer und anderen Journalisten ebenso Einblicke in den Fall und die damalige Lage der Stadt, wie es vier der fünf Teenager – inzwischen natürlich Männer – bezüglich ihrer Erlebnisse tun. Antron McCray verzichtete aus Gründen der Anonymität darauf, gefilmt zu werden und ist lediglich aus dem Off zu hören. Besonnen und teils emotional wird der Ereignisablauf aufgerollt und nachverfolgt; allerdings erst, nachdem zu Beginn die Unschuld der Fünf etabliert wurde.

Nach ihrem Freispruch hatten diese wiederum eine Klage bei der Stadt New York City eingereicht, die allerdings bis heute nicht vor Gericht verhandelt wurde. Ob sie eine finanzielle Entschädigung erhalten, dürfte zweifelhaft sein. Ihre sieben bzw. elfeinhalb Jahre werden die Central Park Five jedenfalls nie wieder kriegen, ähnlich wie die West Memphis Three. Drei unschuldige Jugendliche aus West Memphis, Arkansas und Protagonisten der Paradise Lost-Trilogie sowie West of Memphis, die 2011 nach 18 Jahren Haft freikamen. Einem Artikel von Liz Webster in The Nation zufolge sind womöglich sechs Prozent aller inhaftierten US-Amerikaner unschuldig – was immerhin über 130 000 Insassen entspräche.

Insofern führt The Central Park Five sehr gut vor Augen, wie mangelhaft die Justiz im Allgemeinen sowie die der USA im Speziellen arbeitet. Zugleich stellt die Dokumentation eine gelungene Zeitreise in die Vergangenheit dar, als die Kriminalität in New York und die Rassenproblematik in den Großstädten – die Unruhen in Los Angeles waren nur drei Jahre später – größer war. Angesichts der Fälle um die West Memphis Three und Central Park Five stellt sich natürlich die Frage, wie viele Häftlinge lediglich aufgrund von Vorverurteilung im Gefängnis sitzen und tatsächlich unschuldig sind. Die Unschuldsvermutung (“innocent until proven guilty”) ist also in vielen Fällen leider ziemlich weit gefasst.


Szenenbilder aus The Central Park Five © PBS International. All Rights Reserved.

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