This is the best place to be

Allgemein heißt es ja immer, Deutschland wäre besonders gut aus der Weltwirtschaftskrise gekommen, dabei herrschte hierzulande im vergangenen Dezember eine Arbeitslosenquote von 6,4 Prozent. In den Vereinigten Staaten wiederum betrug sie zum gleichen Zeitpunkt nur 5,6 Prozent. Eine Zahl, über die man im Bundesstaat North Dakota nur müde Lächeln kann, schließlich ist die Zahl der Arbeitslosen dort sogar nur halb so hoch. Genauer gesagt ist North Dakota der US-Staat mit der geringsten Arbeitslosenquote – allerdings nahm dort zugleich von 2012 auf 2013 die Zahl der Obdachlosen um 200 Prozent zu. Kein Widerspruch, sondern ein Zusammenhang, wie The Overnighters dokumentiert.

Seit 2005 in dem Städtchen Parshall Öl gefunden wurde, herrscht in North Dakota ein Ölboom. Das betreffende Feld liegt im Williston Becken, was dazu führt, dass Williston zur populären Anlaufstelle für Arbeitslose anderer Bundesstaaten avanciert. Zwischen 2010 und 2013 stieg die Bevölkerung in Williston um 36 Prozent von unter 15.000 auf 20.000 an. Auch in anderen Landkreisen North Dakotas nahm die Einwohnerzahl zu, verdoppelte sich teils sogar. Was nicht ohne Probleme bleibt, denn viele Städte wie Williston sind von ihrer Infrastruktur auf eine derart schnelle Bevölkerungsexplosion nicht eingestellt. Was wiederum den drastischen Anstieg bei der Zahl der Obdachlosen in North Dakota erklärt.

In Williston finden sie Unterschlupf in der Concordia Lutheran Church von Pastor Jay Reinke, der bereits gut 1.000 Männer in der Kirche hat übernachten lassen. Sie schlafen in Räumen und Gängen, in ihren Fahrzeugen auf dem Kirchenparkplatz. Zehntausende kommen nach North Dakota auf Arbeitssuche, einen Platz zum Unterkommen haben die wenigsten von ihnen. “I’m just at the end of my rope”, erklärt einer der Männer. Endstation Williston heißt es für viele. Pastor Reinke hat derweil nur eine Bitte: “Don’t spill coffee on the carpet. Drives me crazy.” Seine Gäste danken es ihm, ist Reinkes Kirche doch einer der einzigen Orte, wo sie sich willkommen fühlen, in einer Stadt, die ihnen skeptisch gegenübersteht.

“This normally peaceful town is livin’ in fear”, so ein Nachrichtenbeitrag, als eine Lehrerin von zwei Zugereisten ermordet worden sein soll. In der Tat hat sich in North Dakota zwischen 2007 und 2012 die Kriminalität verdoppelt. Und mit ihrem Anstieg fällt die Geduld der Anwohner mit den Neuankömmlingen. Auch innerhalb Reinkes Kirchengemeinde, die bei aller Nächstenliebe und Christlichkeit wissen will, wie viele Männer der Pastor noch aufnehmen will. Und wie lange das Ganze weitergeht. “I don’t say ‘no‘ very well”, gesteht der dreifache Familienvater, der seine Frau und Kinder im Zuge seiner Hilfsbereitschaft hintenanstellt. Immerhin hat er aber seine Familie bei sich, würden vermutlich manche sagen.

Schließlich haben die Meisten von ihnen ihre Liebsten zurücklassen müssen, um in North Dakota ihr Glück zu versuchen. Kontakt mit der Gattin und den Kindern wird per Telefon oder Skype aufrecht erhalten. “I came out here to save my family and it’s probably costing me my family”, sagt später einer der Männer verzweifelt. Zu Beginn des Films hatte er Händeringend nach einer Anstellung gesucht. Denn wer im Ölfeld nach zwei bis drei Tagen keine Arbeit findet, kriegt selten eine, weiß ein Kirchengemeindemitglied. Die Männer wiederum ringen mit sich selbst, haben ihren Stolz und ihre Würde längst verloren. Die Einwohner North Dakotas wollen sie nicht hier haben, die Männer selbst wären sicher auch lieber woanders.

Trotzdem ist es aktuell ihre beste Chance. “This is the best place to be, man”, heißt es an einem Lagerfeuer dreier Männer, die vor ihren Wohnwagen sitzen. Ein anderer meint “this is definitely the place for a second chance”, immerhin würden die Arbeitgeber nicht einmal nach möglichen Vorstrafen fragen. Was im Verlauf von The Overnighters noch entscheidend wird, wenn Reinke einen vorbestraften Sexualstraftäter bei sich Zuhause aufnimmt. Schlicht, damit nichts davon nach außen dringt. Denn die Lokalpresse, so Reinke, führt einen Feldzug gegen ihn und die Overnighters. Und natürlich findet sie anschließend heraus, wer bei Reinke wohnt, versucht vom Pastor auf offener Straße ein Statement zu bekommen.

Einen der Journalisten der betreffenden Zeitung befragt Regisseur Jesse Moss genauso wenig eindringlicher für seine Dokumentation wie Anwohner oder jemand von der Stadtverwaltung. Im Mittelpunkt des Films steht Pastor Reinke – was sich mit fortlaufender Dauer als immer größeres Problem herausstellt. Denn die Motivation des Gottesmanns bleibt schwammig und erklärt sich nicht mit reiner Nächstenliebe. Vielmehr wirkt Reinke wie ein Narzisst und Selbstdarsteller, was er in mehreren Szenen unter Beweis stellt. So sagt er im einen Moment einem Mann, ihm gehöre seine Liebe und Unterstützung, wenn ihn der Film das nächste Mal wieder besucht, wurde er von Reinke verstoßen. Und ist damit nicht alleine.

Als ihm das Problem mit dem Sexualstraftäter – dessen Vorstrafe darin liegt, dass seine damalige Freundin minderjährig war – zu viel wird, sucht Reinke das Gespräch mit ihm. Dies wiederum in einem Food Court, was sein Gegenüber merklich irritiert. Warum er so eine Szene verursache, will er von Reinke wissen. Die Antwort findet sich in Moss’ Film. Ein Echo hierzu gibt es gegen Ende, wenn Reinke erneut die Öffentlichkeit sucht, um seiner Frau ein niederschmetterndes Geständnis zu machen. Das Ganze von einem Pastor und Menschenhirten. Moss befeuert und bestätigt Reinkes Verhalten durch seine fehlende Distanz dabei nur noch, was The Overnighters, wie sich zeigt, immer stärker zum Hindernis wird.

Das eigentliche Thema des Films, die Obdachlosensituation in Folge des Ölbooms, gerät verstärkt in den Hintergrund. Am Ende dreht sich The Overnighters fast singulär um Jay Reinke, den Jesse Moss durch seine Aufmerksamkeit durch den Film tiefer in eine Situation geritten hat, die dieser vielleicht besser vermieden oder zumindest entschärft hätte. Angesichts des sozial aufgeladenen Themas ist es bedauernswert, in welche Richtung sich die Dokumentation entwickelt, was sich durch einen kompetenteren Regisseur hätte vermeiden lassen können. Dass der Film dann so endet, wie er es tut, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Jesse Moss hätte sich vermutlich kaum einen „besseren“ Schluss wünschen können.


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