Worth investing the time


Es ist vermutlich der Albtraum aller Eltern: Dass das eigene Kind nach der Geburt im Krankenhaus vertauscht wird. Zwar handeln es sich um seltene Fälle, für die Betroffenen ist dies aber nicht minder schockierend. Vor sechs Jahren wurden in Saarlouis zwei Neugeborene vertauscht, die nach einem halben Jahr wieder bei ihren leiblichen Eltern landeten [1]. Im französischen Cannes ereignete sich 1994 eine Verwechslung, die erst nach Jahren bemerkt und letztlich nicht korrigiert wurde [2]. Ein emotionales Thema, das sich auch Regisseur Kore-eda Hirokazu für seinen jüngsten Film Soshite chichi ni naru – im Ausland als Like Father, Like Son vertrieben – zu eigen machte. Und das diesen im Alleingang zu Tragen weiß.

Im Film erhält das Ehepaar Nonomiya einen Anruf des Krankenhauses, in welchem ihr Sohn Keita (Ninomiya Keita) vor sechs Jahren zur Welt kam. Es stellt sich heraus, dass es seinerzeit zu einer Verwechslung des Neugeborenen kam. Folglich ist der Junge, den Ryota (Fukuyama Masaharu) und Midori (Ono Machiko) als ihren Sohn aufziehen, nicht ihr leiblicher Nachwuchs. Der wächst derweil unter dem Namen Ryusei (Hwang Shôgen) auf, in der Familie von Saiki Yudai (Furankî Rirî) und seiner Gattin Yukari (Maki Yôko). Beide Familien einigen sich auf eine Kontaktpflege, während sie bis zum Schulbeginn in sechs Monaten entscheiden müssen, welchen Jungen sie weiter als ihren Sohn aufziehen wollen.


Ein sofortiger (Rück-)Tausch scheint ausgeschlossen. “No one could switch a pet either”, vergleicht Yudai. Er und seine Frau sehen die Situation etwas entspannter als die Nonomiyas. Zuvorderst freuen sie sich über das vom Krankenhaus zu leistende Schmerzensgeld, ist es um die Familie des Ladenhändlers Saiki finanziell doch weniger gut bestellt als um die konservativen Nonomiyas. Vielleicht auch deswegen setzt Ryotas Chef ihm Flausen in den Kopf: “Why don’t you raise them both?” Den Jungen, der Jahre lang sein Sohn war, genauso wie das eigen Fleisch und Blut. Was insofern verwundert, da Ryota eine ziemlich herzlose Figur ist, die weder für Keita noch seine Frau oder die übrige Familie Gefühle zu hegen scheint.

Eine gewisse Ironie findet sich dahingehend, dass Ryota und sein Bruder nicht von ihrer leiblichen Mutter, sondern von der zweiten Frau ihres Vaters aufgezogen wurden. Der kühle Familienvater weiß also aus erster Hand, wie es ist, keine biologische Bindung zu einem seiner Erzeuger zu haben. Und dennoch stellt er Gene vor Gefühle, offenbart Midori bereits früh in Hinsicht auf Ryusei und die Saikis: “We may have to fight them.” Für ihn erklärt sich nun, warum Keita nicht gut genug Piano spielt – dabei bemüht sich der Junge doch sonst, nach seinem Vater zu geraten. Aufgaben von diesem werden spielerisch als „Missionen“ angesehen. Und sollen den Jungen dabei früh zur Selbstständigkeit erziehen.


Yudai wiederum ist eine völlig andere Vater-Figur. Wo Ryota meist spät Abends von der Arbeit nach Hause kommt und nicht einmal sonntags Zeit für Keita hat, sucht Yudai den spielerischen Kontakt zu seinem Nachwuchs. Wo im Hause Nonomiya alleine gebadet wird, ist das Baden bei den Saikis – sicher auch finanziell bedingt – ein Familienevent. “It’s worth investing the time”, klärt Yudai sein Gegenüber auf, als dieser sich zu schade ist, mit seinem Kind herumzutollen. Wie unterschiedlich die Männer sind, macht Kore-eda auch in ihren Lebensmotten deutlich. “Take one day off and it takes three days to catch up”, sagt Ryota da. “Put off to tomorrow whatever you can”, heißt es unterdessen aus Yudais Mund.

Letzterer bietet somit das familiärere Umfeld. Schreibt den Kindern nicht vor, wie sie mit ihren Stäbchen zu essen haben, repariert ihr Spielzeug, wo das reichere Pendant vermutlich einfach Neues kaufen würde. Als die Familien übers Wochenende die Jungen austauschen, nimmt sich Ryota für Ryusei genauso viel Zeit wie für Keita – nämlich keine. Gattin Midori macht es wenig besser, sodass der Junge zwischen der Badewanne und seinen Videospielen hin und her wandert. Als Zuschauer fragt man sich, wozu der adrett gekleidete Geschäftsmann beide Jungen aufziehen will, wo er doch an keinem von ihnen wirkliches Interesse zeigt. Erst spät erfährt Ryota doch noch eine Sinneswandlung – vielleicht fast zu spät.


Denn auch wenn das Thema der vertauschten Kinder Soshite chichi ni naru trägt, bleibt der Film zugleich an diesem hängen. Die Figuren sind Mittel zum Zweck für die Dramatisierung, einen rechten Zugang zu ihnen vermag Kore-eda nicht zu entwickeln. Warum ist Ryota so kalt? Zu Keita, Midori, seiner Stiefmutter? Wieso vermag Midori genauso wenig eine Beziehung zu Ryusei aufzubauen? Und was, außer repariertes Spielzeug und Spielgefährten, spricht Keita sonst bei den Saikis an? Wie Yudai und Yukari über den Konflikt mit den Kindern denken, verfolgt der Film auch nicht weiter – sehr wohl dafür aber ihre Vorfreude auf die finanzielle Entschädigung. Was die vermeintlich „besseren“ Eltern geldgierig wirken lässt.

Mit der Frage, ob das Eltern-Kind-Verhältnis mit der Zeugung oder erst nach der Geburt beginnt, setzt sich Kore-edas Film somit nicht wirklich auseinander. Sicherlich fällt es Eltern leichter, vertauschte Kinder im Alter weniger Monate, vielleicht sogar bis zu einem Jahr, eher wieder auszutauschen als wenn diese bereits fünf, sechs Jahre aufgezogen wurden. 100 Prozent der Eltern, sagen die Krankenhausleiter im Film, würden ihre leiblichen Kinder wiederhaben wollen. Wobei wohl anzunehmen ist, dass dies in frühen Stadien der Verwechslung der Fall ist. Je älter die Kinder sind, desto unwahrscheinlicher scheint, dass sie aus ihren gewohnten Umfeld entrissen werden, wie auch ein Fall aus Virginia zeigt [3].


Insofern fehlt Soshite chichi ni naru trotz der starken Prämisse in gewisser Weise das Persönliche, um über die Frage der richtigen Handlungsweise hinaus mit den Figuren des Films mitzuleiden. Aber nicht nur mit den Charakteren hätte sich Kore-eda intensiver auseinander setzen müssen, auch an seinem Thema kratzt er schlussendlich nur oberflächlich. Wie genau sich die Elternschaft der vier Figuren definiert beziehungsweise sie selbst diese definieren – abgesehen von Ryotas Identifikation primär über das Gen-Material – wird nicht näher erläutert. Für die Nonomiyas wie auch für die Saikis ändert sich an sich wenig. Bei den einen wird Ryusei wie Keita sich überlassen, bei den anderen ist das Kind eines von vielen.

Dem ungeachtet vermag der Film natürlich speziell nach hinten raus zu berühren. Dies mag sich auch durch Ryotas einsetzende Katharsis erklären. So faszinierend die Fragestellung gerät, hätte Soshite chichi ni naru jedoch weitaus packender und mitreißender geraten können, wenn Koreeda-san mehr in die Tiefe gegangen wäre. Sei es bei den Figuren, dem Thema oder beidem. Zumindest bei Steven Spielberg hat der Film jedoch genug Eindruck hinterlassen, um ein US-Remake durch DreamWorks zu rechtfertigen, das von Paul und Chris Weitz geschultert werden soll. Wenn man so will, kriegt Like Father, Like Son somit nun neben seinem japanischen also noch einen US-amerikanischen Erzeuger dazu.



Quellenangaben:

[1] s. o.A.: Vertauschte Babys sind daheim, in: Focus.de, 21.1.2008, http://www.focus.de/panorama/welt/saarlouis_aid_234530.html.
[2] s. Annika Joeres: Vertauschte Säuglinge. Ist das mein Kind?, in: zeit.de, 20.2.2014, http://www.zeit.de/2014/09/vertauschte-kinder-abstammung-erfahrung.
[3] Sara Gates: After Being Switched At Birth, Rebecca Chittum and Callie Johnson Wouldn’t Change A Thing, in: The Huffington Post, 22.11.2013, http://www.huffingtonpost.com/2013/11/22/rebecca-chittum-callie-johnson-switched-at-birth_n_4319243.html.


Szenenbilder “Soshite chichi ni naru” © Film Kino Text. Alle Rechte vorbehalten.

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