An American Tragedy


Es gibt diese medialen Momente der Zeitgeschichte, die wird ein Mensch wohl kaum mehr aus seinem Gedächtnis löschen können. So wie die Live-Berichterstattung zum 11. September 2001 mit dem Einsturz des World Trade Centers, das Verkünden des Verkehrsunfalls und späteren Ablebens von Prinzessin Diana am 31. August 1997, aber auch jene wahnwitzige Verfolgungsjagd des 17. Juni 1994 von O.J. Simpsons weißem Ford Bronco durch die Polizei von Los Angeles. Der Fall O.J. Simpson war Mitte der neunziger Jahre ein mediales Event, im Fernsehen übertragen und eine ganze Nation spaltend in einer historischen Phase der USA, als der Rassismus-Diskurs noch mehr Alltag war als heute.

In den USA befasste sich dieses Jahr die erste Staffel (The People v. O.J. Simpson) der Kabelserie American Crime Story mit dem Fall O.J. Simpson. Dem ehemaligen Football-Spieler und Schauspieler legte die Bezirksstaatsanwaltschaft von Los Angeles 1994 zur Last, seine Ex-Frau Nicole Brown Simpson am 12. Juni jenes Jahres nebst ihrem Freund Ron Goldman erstochen zu haben. Auch Regisseur Ezra Edelman widmet sich in seiner fast achtstündigen ESPN-Dokumentation O.J.: Made in America dem Verlauf jener Gerichtsverhandlung, aber auch seiner Vorgeschichte sowie der kulturgeschichtlichen Hintergründe. Das Ergebnis seiner Arbeit ist ein intensiver, spannender und ungemein aufschlussreicher Film.

Unterteilt in fünf Kapitel – weshalb der Film auch als Miniserie angesehen werden kann – erzählt Edelman von den Anfängen des Orenthal James Simpson als junger College- und späterer Profi-Footballspieler. Von seiner zweiten Ehe mit der ehemaligen Kellnerin Nicole Brown sowie deren unweigerlichem Scheitern, vom Mord an Nicole Brown Simpson und dem Arrest von O.J., jener von einer ganzen Nation verfolgten Gerichtsverhandlung sowie den Folgejahren nach Simpsons Freispruch. Wie das Schicksal so spielt, landete der heute 69-Jährige am Ende doch im Gefängnis – wenn auch nicht für jenes Verbrechen, für das ihn allgemein zumindest die Mehrheit der weißen Bevölkerung der USA als schuldig erachtet.


Edelmans Film beginnt mit einer Bewährungsanhörung von O.J., der 2008 für Kidnapping und einen bewaffneten Überfall zu einer Freiheitsstrafe von 33 Jahren verurteilt wurde. Während jener Anhörung wird er er auch nach seinem ersten polizeilichen Arrest im Jahr 1994 befragt. Und reagiert leicht genervt mit der Frage “We’re talking about this?”. Unweigerlich dreht sich die Frage immer um jenen Mordfall von 1994, wenn es um O.J. Simpson geht. Ungeachtet dessen, ob der 69-Jährige damals die Tat nun begangen hat oder nicht, so sollte in jener Nacht des 12. Juni auch sein früheres Leben für immer enden. Und der Jahrzehnte als “American hero” verehrte Prominente zu einer amerikanischen Tragödie werden.

Im Grunde skizziert O.J.: Made in America wie zuerst für einen jungen Mann der American Dream wahr wurde, nur um sich später zum Albtraum zu verkehren. Insofern ist die Geschichte von O.J. Simpson einerseits eine persönliche, aber auch eine allgemeine, vielmehr noch aber eine Geschichte über Amerika und das Verhältnis von Schwarzen und Weißen im Land. “We talk about O.J. as if the story is O.J.”, formuliert dies im Verlauf des Films die Journalistin Celia Farber. Und stellt klar: “The story is O.J. and us.” Immerhin lebte O.J. Simpson ein solches Promi-Leben, das von Abhängigkeit zu seinen Fans und dem daraus resultierenden Ruhm geprägt war. Genauso wie von der Faszination der Menschen mit O.J.

Bereits als Kind ging es für O.J. im Leben nicht um Geld. “I wanted to be known”, verrät er uns zu Beginn aus dem Off. Die Leute sollten ihn auf der Straße sehen und sagen “hey, there goes O.J.”. Sein Wunsch würde Befehl werden, erst im Guten, dann im Schlechten. Das Fundament seines Ruhms bildete sein sportliches Talent, war O.J. doch ein geborener Athlet. Einer seiner ehemaligen Football-Trainer sagt “he was one of a kind” und sein späterer Mitspieler bei den Buffalo Bills, Joe DeLamielleure, beschreibt, O.J. “could run sideways faster than most men forward”. Seine Schnelligkeit und Agilität war es dann auch, die ihm 1967 während eines College-Football-Spiels zum Durchbruch verhelfen sollte.


Im Derby zwischen der University of California und UCLA sicherte O.J. mit einem 64-Yard-Sprint den Sieg. “He became an instant national star”, erinnert sich Teamkamerad Steve Lehmer. In der Folge wurde O.J. von Buffalo gedraftet, begann bereits während seiner Profi-Karriere, Nebenrollen in Hollywood-Filmen zu übernehmen, darunter im The Naked Gun-Franchise. Mit dem lang ersehnten Ruhm folgte aber zugleich der schleichende Niedergang. Bereits an der University of California war O.J. Mitte der Sechziger quasi der einzige Schwarze unter Weißen. Und er verlor, so eine zentrale These von Edelmans Dokumentation, auch aufgrund damaliger historischer Vorfälle in L.A. seine schwarze Identität.

Polizeigewalt gegen die schwarzen Bürger von Los Angeles (und natürlich auch anderswo in den USA) war in den sechziger Jahren keine Seltenheit. Als Reaktion kam es zu Aufständen der schwarzen Bevölkerung, schwarze Athleten erklärten einen Boykott und Widerstand – darunter auch Muhammad Ali. Kein Bestandteil hiervon war jedoch O.J., der, sicher nicht nur gespielt, in seiner eigenen Welt lebte. “I’m not black, I’m O.J.”, diktierte er seinerzeit mal ins Mikro. Und in der Tat wurde O.J. aufgrund seiner Anpassung von seinen weißen Mitbürgern mehr akzeptiert als wohl so mancher andere Schwarze. “He transcended race and color”, fasst es TV-Reporterin Zoey Tur in einer späteren Szene treffend zusammen.

O.J. spielte das Spiel des weißen Mannes mit, stets freundlich und bemüht, zugleich charmant und – am wichtigsten – immerzu erfolgreich. “O.J. portrayed success”, findet Frank Olson, CEO des Autoverleihs Hertz, zu dessen Werbefigur der Football-Star in den Siebzigern avancierte. In der Gegenwart von O.J. fühlten sich alle gut, insbesondere Weiße, erinnert sich New York Times-Journalist Robert Lipsyte. Dazu musste sich O.J. aber nicht nur von den Vorfällen der ständigen Rassendiskriminierung distanzieren, sondern allgemein von seiner Kultur. “He lost his identity”, sagt sein Jugendfreund Joe Bell. “He was seduced by white society.” Da passte es ins Bild, dass O.J. seine schwarze Frau für eine weiße verließ.


Anfangs war es die große Liebe zwischen O.J. Simpson und Nicole Brown, die zwei Kinder hervorbrachte. Enden würde ihre Beziehung jedoch in zwei blutigen Morden. Bereits Ende der 1980er Jahre gab es vermehrt Fälle häuslicher Gewalt im Hause Simpson, beide Ehepartner trennten sich, kamen erneut zusammen und ließen sich dann scheiden. Für den untreuen und eifersüchtigen O.J. ein schwerer Schlag – und womöglich Mordmotiv. “He had everything”, schaut Frank Olson am Ende des Films auf das Leben seiner Werbefigur zurück. Geld, Ruhm, eine tolle Familie und die Zuneigung der amerikanischen Bevölkerung. “He should’ve been a model citizen”, zieht Pastor Mark Whitlock als Schluss aus all diesen Vorzügen.

Doch Ruhm und Reichtum korrumpieren und wer alles hat, wird selbstgefällig. Was wirklich in der Nacht des 12. Juni 1994 geschah, vermochte weder der Prozess gegen O.J. Simpson noch Ezra Edelmans Dokumentation aufzuklären. Was der Fall offenlegte, war die Spaltung der amerikanischen Gesellschaft zwischen Weiß und Schwarz. Nur wenige Jahre zuvor waren die Polizeibeamten, die Rodney King attackiert hatten, freigesprochen worden. Wie würde nun gegen O.J. vorgegangen werden? Die Verhandlung wurde zum “Trial of the Century”, primär weil ein schwarzer amerikanischer Held eine weiße Frau umgebracht haben soll. “The case was everywhere”, erinnert sich der Journalist und Autor Jeffrey Toobin.

Das Rassenthema hielt selbst Einzug in den Gerichtssaal, als wider Erwarten die Jury zu zwei Dritteln aus Schwarzen bestand und die Bezirksstaatsanwaltschaft um Gil Garcetti und Marcia Clark die Prozessleitung ihrem schwarzen Kollegen Christopher Darden überließ. Ein Fehler, wie sich herausstellen sollte, machte Darden gegen Simpsons Star-Verteidiger Johnnie Cochran doch keine gute Figur. Die Schuld traf jedoch die Polizei von Los Angeles allgemein, reihten sich doch Fehler an Fehler in der DNS-Beweisführung und Tatortbehandlung. “You could see the disaster coming”, führt Toobin aus. Und dies trotz einer erdrückenden Beweislast, inklusive DNS-Verbindungen zwischen Simpson und den Opfern.


In gewisser Weise stand nicht nur O.J. Simpson vor Gericht, sondern ganz Los Angeles als Stadt. Als Folge des Rodney-King-Falls, von seiner Attacke über die Ausschreitungen in L.A. bis zum Freispruch der Polizeibeamten, aber auch anderer Polizeigewalt gegen Schwarze wie Eulia Love in 1979 war die Stimmung gereizt in der Stadt der Engel. So hielten 77 Prozent der Weißen O.J. Simpson für schuldig, während 72 Prozent der Schwarzen ihn als unschuldig ansahen. Und O.J. selbst wurde das, was er immer erfolgreich vermieden hatte: aufgrund seiner Hautfarbe instrumentalisiert im Disput zwischen Schwarz und Weiß. “O.J. Simpson became a symbol of that decade, of that time”, fasst Pastor Cecil Murray zusammen.

Insofern ist es reiner Zynismus, wenn eine der Geschworenen von damals in O.J.: Made in America gesteht, dass der Freispruch für Simpson primär von Vergeltung für Rodney King motiviert war. Aber auch dadurch erklärt, dass der Fall aufgrund seiner Präsentation der Staatsanwaltschaft nicht alle Zweifel ausräumen konnte. Letztlich war O.J. zwar frei, aber doch verurteilt. Das weiße Los Angeles mied ihn anschließend und O.J. musste nach Jahrzehnten das tun, was er einst aufgegeben hatte: sich als Schwarzer in die schwarze Gesellschaft eingliedern. “If you’re a celebrity you have no color”, sagt Robin Greer, eine Bekannte der Simpsons, über Los Angeles. Zumindest O.J. hatte nun aber doch eine – wenn auch zwangsweise.

Den Tod von Nicole Brown Simpson und Ron Goldman konnte er fortan nicht mehr abschütteln – egal ob Täter oder nicht. Die Zuneigung der Leute, zuvorderst der weißen High Society, der sich O.J. seit den 1970er Jahren zugehörig fühlte, war verloren. Später auch das Vermögen. Einige wertvolle Erinnerungsstücke kamen ihm abhanden, als er sie mit zwielichtigen Bekannten zurückholen wollte, handelte sich O.J. schließlich die zweite Anklage ein. Dass er mit 33 Jahren nun die Maximalstrafe erhielt, sieht nicht nur Jeffrey Toobin als Akt juristischer „Rache“ für den Freispruch von 1995. Ausgleichende Gerechtigkeit könnte man ätzen, nur stehen hinter beiden Entscheidungen am Ende wohl eher niedere Beweggründe.


Ezra Edelman gelingt es auf brillante Weise, ein Dokument nicht nur über den Mordfall von Nicole Brown Simpson, das Verfahren gegen O.J. und seine Schuldfähigkeit zu inszenieren, sondern er zeichnet zugleich ein interessantes und spannendes Porträt des Football-Stars selbst. Ergänzt und kontrastiert mit den Rassenunruhen der damaligen USA, weshalb O.J.: Made in America zwar zuvorderst über O.J. Simpson spricht, aber letztlich fast mehr über die USA und ihr Verhältnis zu ihrer schwarzen Bevölkerung aussagt. Das Ganze gelingt Edelman auf teils subtile Art ungemein besser als dem thematisch nicht unähnlichen und ebenfalls aus 2016 stammenden Dokumentarfilm The 13th von Ava DuVernay.

Die beinahe achtstündige Laufzeit ist im Fall von O.J.: Made in America von Vorteil, Längen stellen sich aufgrund der faszinierenden und hochspannenden Materie trotz ihres bekannten Ausgangs nicht ein. Zudem gelingt es Edelman einen Großteil der damaligen Protagonisten – am auffälligsten ist das Fehlen von Christopher Darden – als Talking Heads zu gewinnen. Das Ergebnis ist fraglos eine der besten Crime-Dokumentationen aller Zeiten, aber auch überzeugendes Biopic zu O.J. Simpson und Dokument über die Kluft zwischen Schwarzen und Weißen in Amerika. “My story is just like an American tale”, sagt uns ein junger O.J. Simpson am Ende aus dem Off. Aber wer alles hat, kann eben auch alles verlieren.


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