These babys will be angels

Nicht viele soziale Themen spalten die Gesellschaft so sehr wie die Frage nach der Legalität von Abtreibungen. “Everybody is right when it comes to the issue of abortion“, sagte der Jurist Alan Dershowitz in Tony Kayes Dokumentation Lake of Fire. In den USA ist um das Thema ein regelrechter Kleinkrieg entbrannt, in dem Ärzte, die Abtreibungen vornehmen, immer wieder von Anti-Abtreibungs-Fanatikern ermordet werden. So wie George Tiller im Jahr 2009, nachdem bereits in der Vergangenheit Anschläge auf sein Leben verübt worden waren. Die Folgen dieser Tat schlagen Wellen bis in die Gegenwart, wie Martha Shanes und Lana Wilsons Dokumentation After Tiller zeigt. In ihr befassen sich die Regisseurinnen weniger mit der Debatte, pro oder contra Abtreibungen, sondern mit Tillers Erbe.

War dieser doch bis zu seinem Tod einer der wenigen Ärzte, die Spätabtreibungen durchführten. Hierbei handelt es sich um eine Abtreibung im dritten Trimester der Schwangerschaft, also jenseits der sechs Monate. Nur ein Prozent aller Abtreibungen geschieht im dritten Trimester und hängt meist damit zusammen, dass die Föten einen genetischen Defekt oder eine Behinderung aufweisen. Über derartige Umstände berichten auch die Eltern, die in After Tiller die verbliebenen vier Ärzte aufsuchen, die in den USA noch Spätabtreibungen durchführen. So wie die Eltern eines Fötus’, bei dem in der 30. Schwangerschaftswoche plötzlich Arthrogryposis multiplex congenita (AMC), also eine angeborene Gelenksteife, diagnostiziert wurde. Und dies bei seinen Erzeugern einen Denkprozess anregte.


“Rather not put her through all that”, beschließt der Vater das Sterben seiner Tochter. Und seine Frau, die wie ihr Mann aktiv Sport betreibt, fragt sich: “Would we want to have lived our lives like that?” Schließlich kann die Tochter mit ihrer Gelenksteife später selbst keinen Sport treiben. Und was ist ein Leben ohne Sport wirklich wert? Vor einem ähnlichen Dilemma stehen zwei andere Eltern, als man ihnen sagt, ihr Kind leide an einer Corpus-callosum-Agenesie. Die Verbindung zwischen beiden Gehirnhälften fehlt somit – für das Kind das Todesurteil. Die Ärztin Shelley Sella hat Verständnis. “It’s not just about being alive”, sagt sie. “It’s about life and what does it mean?” Ein Leben mit Behinderung wird als kein echtes Leben erachtet. Dunkel fühlt man sich an den Fall „Kind K.“ erinnert.

In einem anderen Fall bittet ein Vergewaltigungsopfer im sechsten Monat um eine Abtreibung, ohne derartige triftige Gründe werden Spätabtreibungen nicht vorgenommen. Auch, weil es neben Shelley Sella mit LeRoy Carhart, Susan Robinson und Warren Hern nur vier Ärzte im Land gibt, die diese durchführen. “At times I struggle and at times I don’t”, erzählt uns Sella. “But I always come back to the woman and what she’s going through.” Die Dokumentation widmet jedem der vier Ärzte scheibchenweise ihre Aufmerksamkeit, versucht die Motive für deren Bereitschaft zur Spätabtreibung hervorzuheben und die Persönlichkeit der vier zu beleuchten. So hatte LeRoy Carhart einst eine Pferdefarm, ehe sie von Abtreibungsgegnern im Jahr 1991 abgebrannt wurde und dabei 21 Pferde starben.


Auch das Privatleben von Warren Hern litt unter den ständigen Bedrohungen. “When I walk out the door of my office I expect to be assassinated”, gesteht er. Dabei ist ihm all das Aufheben um das Thema Abtreibung ein Rätsel. Hern wundert sich eher darüber, warum Leute Marihuana rauchen. “See what it does to your brain”, appelliert der Arzt. Keiner von den Vier macht seine Arbeit, weil sie ihm Spaß bereitet. Sondern weil sie den Menschen, die sie wegen dieser Arbeit aufsuchen, helfen wollen. Die zur Schau gestellte Beziehung zwischen Patientin und Arzt bringt in After Tiller so manche schräge Szene mit sich. Beispielsweise wenn eine Frau sich mit Umarmungen für die Fürsorge bedankt und über ihren Abtreibungsablauf anschließend sagt “it was such a precious experience”.

Man muss auch das Gute sehen – oder sich zumindest einreden. “Obviously these babies, they will be angels”, sagt eine Mutter. Und als Zuschauer versucht man sich vorzustellen, was für Aufgaben auf einen sieben Monate alten Fötus mit Flügeln im Himmel warten könnten. Der Tod des eigenen Kindes muss eben akzeptiert werden – wenn schon das Kind selbst mit seiner Behinderung nicht. “I would if I could but I really can’t”, stammelt eine Mutter und die Ärzte fragen sich, was den Menschen wirklich helfe. Ihr Leben der Erziehung eines Kindes zu widmen, das kein „normales“ Leben führen kann? Oder sich selbst und dem Kind derartige Leiden oder Beschwerlichkeiten durch ein frühzeitiges Beenden zu ersparen. “It sounds barbaric, doesn’t it?”, ist sich Sella dabei bewusst.


Die Dokumentation liefert auf die Frage keine direkte Antwort. Wie könnte sie auch. Selbst als Zuschauer fällt es einem schwer, sich klar zu positionieren. In den USA, wo sich die Befürworter und Gegner von Abtreibungen in etwa die Waage halten, unterstützen wiederum nur zehn Prozent die Legalität von Spätabtreibungen. Diese sind auch nur in neun Bundesstaaten erlaubt, wobei selbst in diesen kaum eine Gemeinde, wie der Film zeigt, eine derartige Klinik beheimaten möchte. “Reality is complicated”, sagen Martha Shane and Lana Wilson selbst. Menschen, die mit angeborener Gelenksteife leben, sind womöglich mit ihrem Leben, trotz der Einschränkungen, die ihre Behinderung mit sich bringt, dennoch ganz zufrieden. Und froh, dass ihre Eltern sie nicht einst abtrieben.

Nun ist Arthrogryposis sicher etwas anderes als Corpus-callosum-Agenesie, grundsätzlich stellt sich aber die Frage, wie viel Behinderung eine Spätabtreibung rechtfertigt. Ein Leben mit Down-Syndrom und anderen Einschränkungen dürfte für viele immer noch lebenswerter sein, als gar kein Leben. Dennoch entschlossen sich laut Statistischem Bundesamt im vergangenen Jahr 562 Frauen in Deutschland für eine Abtreibung nach der 22. Schwangerschaftswoche. Immerhin müssen die Ärzte hier bei uns nicht um ihr Leben fürchten, wenn sie diese Arbeit verrichten. Im Gegensatz zu ihren vier Kollegen aus After Tiller. Trotz ihres schon gehobenen Alters denken Susan Robinson und die anderen drei gar nicht an den Ruhestand. “I can’t retire”, sagt Robinson. “There aren’t enough of us.”


Szenenbilder “After Tiller” © ro*co. All Rights Reserved.

Der dreifache Tod des Feiv’ke Schwarz

„Ich glaube, dass für jeden Juden – noch viel mehr für die Generation, die den Holocaust mitgemacht hat – die Begegnung mit Deutschland immer eine besondere Begegnung ist“, sagte Regisseur Dror Zahavi in einem Interview mit dem Ersten zu seiner Adaption von Marcel Reich-Ranickis Biografie. „Als würde man dem Geist – diesem Dämon – ins Gesicht gucken und versuchen herauszufinden, wie so etwas passieren konnte.“ Die Rückkehr ins Land der Täter ist verständlicherweise wohl nur für wenige Shoa-Überlebende oder deren Nachfahren erträglich. Zu groß ist der Schmerz, den der Verlust von geschätzt 5,6 Millionen Opfern hinterlassen hat. Auch für die Familie der Israelin Yael Reuveny.

Reuveny gehört zur so genannten dritten Generation, ihre Großmutter Michla Schwarz war eine Überlebende des Konzentrationsaußenlagers im brandenburgischen Schlieben. Ursprünglich aus Litauens Hauptstadt Vilnius stammend, verlor sie ihre Familie im Zweiten Weltkrieg, darunter auch ihren Bruder Feiv’ke. Und dies, hier liegt die Tragik, gleich zwei Mal. Zuerst im Glauben, er sei während des Kriegs als Soldat gefallen, dann, nach dem Krieg, als sie in Lodz von Feiv’kes Überleben erfuhr, nur um ihn vermeintlich in einem Hausbrand erneut zu verlieren. Zuvor wollten sich die Geschwister am Bahnhof von Lodz treffen, doch Feiv’ke erschien nicht. Und Michla Schwarz glaubte ihn tot.


„Wenn Feiv’ke am Leben wäre, würde er zu uns kommen“, habe die Schwester immer gesagt, verrät eine Freundin Yael Reuveny. Die junge Israelin hat sich die Geschichte ihrer Familie zum Thema für ihre Dokumentation Schnee von gestern genommen, in der sie ergründen will, warum der Bruder ihrer Großmutter seiner Zeit nicht am Bahnhof von Lodz erschien. Wie sich herausstellt, starb Feiv’ke Schwarz nicht bei einem Hausbrand, sondern erst viele Jahrzehnte später. Ironischerweise an jenem Ort, dem seine Schwester einst entfloh: Schlieben. In Schlieben „fängt die Geschichte meiner Familie an zu bröckeln“, stellt Yael Reuveny fest. Was trieb Feiv’ke dazu, im Täterland und -ort zu bleiben?

Auf dem Friedhof von Schlieben findet Reuveny das Grab ihres Großonkels unter dem Namen „Peter Schwarz“. Eine ehemalige Angestellte spricht gut über „Herr Schwarz“, echte Auskunft könne aber jemand anderes geben: Tante Helga. Deren Mann Otto war der Schwager von Peter/Feiv’ke, der nach dem Krieg eine deutsche Nichtjüdin geheiratet hatte. Und in jenem Ort lebte, wo er einst im KZ saß – dessen ehemalige Baracken inzwischen, in einem Anfall von Zynismus, zu einer Hausreihe von Deutschen umfunktioniert wurde. Im Ort wussten die meisten Einwohner, zumindest die Familie und Freunde, dass Peter Schwarz Jude und ehemaliger Insasse des Konzentrationslagers war. Nicht von ungefähr.


Schließlich hatten viele Schliebener im KZ oder der Munitionsfabrik HASAG gearbeitet. Was die Entscheidung von Schwarz, hierhin zurückzukehren, nicht nur für die Regisseurin umso unverständlicher macht. Über seine Zeit im KZ habe Peter nie geredet. „Das Thema war tabu“, sagt Tante Helga. Und mit dem Thema auch die Familie. In der israelischen Heimat, die Yael Reuveny immer wieder für Interviewpassagen mit ihrer Mutter Esther aufsucht, stellt sich wiederum heraus, dass bereits Mitte der 1990er Jahre ein Anruf aus der DDR einging. Am Apparat war ein vermeintlicher Cousin, ein selbsterklärter Sohn von Peter Schwarz. Man ließ die Sache auf sich beruhen – bis die Regisseurin dem Ganzen nachging.

Yael Reuveny lebt selbst in Deutschland. In Berlin, nahe dem Alexanderplatz. Was sowohl bei ihrer Mutter wie auch ihrem Vater für Unverständnis sorgt. Wie kann sie, als Jüdin, im Land der Täter leben? Und es auch noch als ihr Zuhause bezeichnen? Für die 33-Jährige war die Reise nach Deutschland eine in die Vergangenheit. Eine Reise in eine offene Wunde, die nie verheilt, höchstens unzureichend vernarbt. Was die junge Frau nach Deutschland trieb, ist in Schnee von gestern weniger von Belang wie was ihren Großonkel zurück hierher trieb. Und auch als sie Uwe, ihren Onkel zweiten Grades, sowie dessen Schwester Barbara trifft, findet sie auf diese Frage keine zufriedenstellende Antwort.

Viel eindringlicher als die Frage ob der Rückkehr nach Deutschland beschäftigt die Familie Reuveny jedoch die nach Feiv’kes versagter Suche nach Michla. Glaubte er die Schwester tot? Wollte er sie nicht wiedersehen, weil sie ihn an das erinnerte, was ihm der Krieg genommen hatte? Oder wusste er, dass die Schwester ihm nicht verzeihen würde, dass er nach Schlieben zurückkehrte und eine deutsche Nichtjüdin heiratete? Fragen, die auch Uwe und Barbara nicht beantworten können, die zwar seit Kindesbeinen an um die KZ-Vergangenheit des Vaters wussten, jedoch das frühere Leben ihres Vaters nie in Frage stellten. Es war Uwe, der 1995, acht Jahre nach dem Tod des Vaters, den Kontakt nach Israel aufnahm.

Vergeblich, wie sich herausstellte. Michla, die selbst 2001 verstarb, wollte von der vermeintlichen deutschen Verwandtschaft nichts wissen. Erst nach ihrem Ableben begangen Yael und Esther Nachforschungen, welche Yael vier Jahre später nach Deutschland führten. „In jeder Familie kennt man das Schweigen der ersten Generation, die über das Erlebte nicht reden kann, und die Sprachlosigkeit der zweiten, die nicht fragen durfte“, schrieb Kerstin Krupp in der Berliner Zeitung im Zuge von Reuvenys Film. „Erst die Enkel sind in der Lage, einen neuen Blick zu wagen.“ Und so wie Yael Reuveny ein Verhältnis zu Deutschland sucht, zieht es ihren Cousin zweiten Grades, Barbaras Sohn Stephan, wiederum zu Israel.


Die Geschichte der Großeltern hat bei beiden Spuren hinterlassen und jeder sucht im Land des anderen nach Antworten. Mit Schnee von gestern ist Yael Reuveny dabei nicht nur ein sehr persönliches Porträt über eine familiäre Spurensuche gelungen, sondern auch ein oftmals bewegender Film über die deutsch-israelische Beziehung. Darüber, welche Wellen die Shoa auch heute noch schlägt und wie sie ihre Spuren selbst in der dritten Generation hinterlassen hat. Zugleich zeigt die Dokumentation, dass dies nicht bei jedem Israeli gleich sein muss. So ist Yaels Bruder Oded im Grunde überhaupt nicht an der Geschichte seines Großonkels interessiert, obschon ihn die Faszination der Schwester für diese verwundert.

Am Ende lieferten ihre Nachforschungen für ihre Dokumentation Yael Reuveny zwar weder eine Antwort darauf, wieso es 1945 in Lodz nicht zum Bahnhofstreffen zwischen ihrem Großonkel und ihrer Großmutter gekommen ist, noch darauf, warum dieser nach Schlieben zurückkehrte und nie den Kontakt aus der Diaspora nach Israel suchte. Dennoch scheinen sie und ihre Mutter mehr im Reinen – mit sich selbst und ihrer Vergangenheit. Für Juden und Israelis wird Deutschland sicher immer ein sehr spezielles Land sein, aber Yael, Stephan und die jungen 17.000 Israelis, die derzeit in Berlin leben, machen Hoffnung, dass mit der dritten Generation und folgenden die Beziehung beider Kulturen sich weiter verbessert.


Szenenbilder „Schnee von gestern“ © Film Kino Text. Alle Rechte vorbehalten.