A heap see, but a few know


Es scheint ein medienethisches Dilemma: Wie ist vorzugehen, wenn ein Subjekt in einer (geplanten) Dokumentation betrunken gefilmt wird? Klären die Filmemacher die Freigabe vorab, obschon das Subjekt nicht weiß, was es womöglich im alkoholisierten Zustand alles tun oder sagen wird? Holen sie die Freigabe hinterher ein, wenn die betroffene Person nüchtern das Material sichtet? Was aber, wenn die Freigabe ausbleibt, das gedrehte Material damit unbrauchbar wird? Muss man das eigene verantwortliche Handeln berücksichtigen, wenn man unverantwortliche Menschen filmt? Und diese vor sich selbst schützen? Fragen, die dem Zuschauer womöglich während Bloody Nose, Empty Pockets kommen.

Darin halten die Brüder Bill Ross IV und Turner Ross den letzten Tag der Kneipe Roaring 20s in Las Vegas, Nevada fest. Das Etablissement wird nach vielen Jahren nunmehr geschlossen, die nächsten 24 Stunden werden zu einer einzigen Party, in der die aktuelle Kneipenhocker-Generation auf ehemalige und aktuelle Angestellte trifft. Fast fühlt man sich an Henry V erinnert: “Once more unto the breach, dear friends, once more.” Es wird getrunken und geraucht, Acid geschluckt, geweint, gelacht, geflucht, immer wieder getrunken – eine einzige lange Totenwache für die Kneipe, die dieser Gruppe Abgehängter der Gesellschaft zum Zuhause wurde, ehe nun, in 24 Stunden, auch dort die Räumung droht.

Zum Anlass des Abschieds schickt sich da selbst der 58-jährige Michael an, sich morgens (oder: vormittags) auf dem Bar-Klo zu rasieren, nachdem er mal wieder in der Sofaecke übernachtet hat. Was macht er wohl jetzt, wo es mit dem Roaring 20s zu Ende geht? “I can’t imagine that dude functioning without this place”, lässt Barkeeper Marc durchblicken. Michael will sich am Riemen reißen, Dekoration für den Abend besorgen. Wasser und Kaffee sind erstmal angesagt, ein Sandwich und Donuts, mitgebracht von John, einem anderen Dauergast, sorgen für Elektrolyte. Mit jeder Stunde, mit jedem weiteren Stammgast, der dazustößt, wird jedoch mehr gebechert. Bis es zu eskalieren droht.
 

Bloody Nose, Empty Pockets
ist ein enorm unterhaltsames, eindringliches, durchweg menschliches Dokument über eine Nischengruppe der Gesellschaft, die eher belächelt wird. Schluckspechte und Alkis, Verlierer und Versager. Er sei mal irgendwann Schauspieler gewesen, erzählt Michael an einer Stelle. “I’ve ruined my life sober”, ist er durchaus stolz, dass erst auf sein soziales Ende der Alkoholismus folgte und nicht das soziale Ende auf den Alkoholismus. Währenddessen krächzt der bereits zur Mittagszeit heillose betrunkene Ira am Nebenplatz, der 58-jährige Kneipenkollege solle sich doch erschießen. Alles schon gehört, jedes Schicksal erzählt, vermutlich dutzendfach über die Jahre hindurch, mag man sich denken.

Die Figuren im Film der Ross-Brüder wirken aus dem Leben gegriffen. Jeder wird mit einer von ihnen aus den eigenen Erlebnissen auf gewisse Weise vertraut sein, mancher sogar sie alle irgendwie wiedererkennen. Da ist Bruce, Vietnam-Veteran, der nie über den Verlust der Kameraden und die Animosität seiner Landsleute nach dem Krieg hinweggekommen zu sein scheint. “When you get lonely, you have no friends, you can always come to this bar”, fasst er seine Gefühle in einer Szene zusammen. “I fit in here.” Und damit ist er nicht alleine. Auch John, ursprünglich aus Australien stammend, bezeichnet die übrigen Bar-Insassen als seine Familie, mit der eigenen Blutsverwandschaft kann er nichts anfangen.


“I’m gonna miss it”
, gesteht selbst Shay, die im Verlauf des Tages Marc an der Bar für die finale Schicht ablöst, einer ehemaligen Kollegin. Um dann kurz darauf nachzuschieben: “Been here too long.” Den Absprung nicht geschafft, versandet in der Fata Morgana. Das scheint Angestellte und Gäste zu einen im Roaring 20s. Währenddessen philosophiert Michael mit dem Einstein-Double Felix über den Duft des Morgentaus im Gras, zieht die einsame Pam Verbindungen über Verlusterlebnisse mit einem anderen Kneipengast Im Hintergrund laufen über die Fernseher derweil alte Filmklassiker und aktuelle Nachrichtenberichte über einen Verkehrsansturm (“Carnado”) und das Ergebnis der US-Wahl von ´16.

Was ich selbst erst nach der ersten Sichtung erfuhr, aber in nahezu jeder Rezension zum Film auftaucht und damit im Grunde eigentlich kein Spoiler ist: Bloody Nose, Empty Pockets verwischt die Grenzen seines Dokumentations-Genres. Dahingehend, dass das Setting gestellt, die Figuren Laiendarsteller sind. Tatsächlich befindet sich die Kneipe gar nicht in Las Vegas, sondern in New Orleans. Die Tatsache, dass das Gezeigte zwar nicht geschrieben, aber doch in Zügen geformt ist, verleiht Bloody Nose, Empty Pockets letzten Endes aber sogar noch mehr Qualität, wenn der Film trotz seiner Gekünsteltheit derart authentisch wirkt. Die Charaktere mögen nicht echt sein, wirken aber definitiv so.


Ob das Ganze dann noch als Dokumentation deklariert werden kann, darüber waren sich nicht alle Kritiker einig [1]. Die Frage für das Genre ist letztlich, inwieweit das Bewusstsein, gefilmt zu werden, generell die Menschen beeinflusst in Dokumentarfilmen [2]. “They’re all constructions”, findet Bill Ross IV [3]. “There’s a camera in the room and we’re all performing.” [4] Und wie erwähnt, lassen sich alle diese Charaktere in Variationen im wahren Leben antreffen. Denen ein Job- oder menschlicher Verlust die Existenz vermiest hat, die außer dem abendlichen Besuch in ihrem Stammlokal nichts mehr haben, außer ihren aufgestauten Frust in Alkohol zu ertränken. Art imitates life, quasi.

Zugleich fügt sich Bloody Nose, Empty Pockets perfekt in das bisherige Œuvre der Ross-Brüder ein, die stets beleuchten, wie eine Umgebung die Menschen definiert und wie Menschen ihre Umgebung. Zum Beispiel Chad Foster, Bürgermeister der zunehmend von Drogenkartellen beeinträchtigten texanischen Grenzstadt Eagle Pass in Western oder jenen Gruppen, die in Contemporary Color in einem Tanzwettbewerb versuchen, musikalischen Kompositionen einen physikalischen Ausdruck zu schenken. “Our films are an amalgam of an experience”, sagt Turner Ross [5]. Und ebenjene Bar-Erfahrung ist genauso greifbar wie der French-Quarter-Ausflug der Zanders-Brüder in Tchoupitoulas.


Es spielt somit weniger eine Rolle, ob Michael tatsächlich im Roaring 20s seinen Rausch ausschläft, als vielmehr, dass er all diejenigen repräsentiert, bei denen dies der Fall ist. Somit finden alle, von Michael über Bruce und Ira, bis hin zu Marc, Shay und ihrem Teenager-Sohn Tra ein Spiegelbild in der Realität. Indem die Figuren also vielleicht nicht real, aber fraglos authentisch sind, lässt sich auch medienethisch manches des Gezeigten besser verdauen, darunter wenn eine betrunkene Pam im einen Moment blank zieht und im anderen Moment aus Koordinationsschwäche plötzlich ihre motorische Kontrolle verliert. Die Szenen verlieren somit etwas des Voyeuristischen, ohne an Aussagekraft einzubüßen.

“When you drank the world was still out there, but for the moment it didn't have you by the throat”, schrieb Charles Bukowski in Factotum. Für die Charaktere in Bloody Nose, Empty Pockets ist dies kein Satz, sondern eine Beschreibung ihres Alltags. Das Roaring 20s ist ein Fluchtort, wo sie sich nicht dem stellen müssen, was sie draußen auf der Straße erwartet. Was wiederum die Replik von Marc auf den Plan wirft, wie sie alle ohne die Bar funktionieren sollen? Den Ross-Brüdern gelang mit ihrem Film eine echt wirkende, in der Realität verankerte Version dessen, wovon im Cheers-Theme-Song die Rede ist: “Sometimes you wanna go, where everybody knows your name, and they're always glad you came.”
 
 
Quellenangaben:
 
[1] vgl. Gorr, Sarah: “Bloody Nose, Empty Pockets” is an ethically dicey pseudo-doc, in: The Spool, https://thespool.net/reviews/movies/2020/07/bloody-nose-empty-pockets-review/, 08.07.2020: “whether this is a documentary or not drastically affects how we interpret what we’re seeing”. Siehe auch Kenigsberg, Ben: ‘Bloody Nose, Empty Pockets’ Review: Over Drinks, a Blurry Line Between Truth and Fiction, in: The New York Times, www.nytimes.com/2020/07/09/movies/bloody-nose-empty-pockets-review.html, 09.07.2020, und Moore, Louisa: “Bloody Nose, Empty Pockets”, in: Screen Zealots, https://screenzealots.com/2020/08/31/bloody-nose-empty-pockets/, 31.08.2020.
[2] Shaffer, Marshall: Interview: Bill and Turner Ross on the Constructions of Bloody Nose, Empty Pockets, in: www.slantmagazine.com/film/interview-bill-and-turner-ross-on-the-constructions-of-bloody-nose-empty-pockets/, 09.07.2020: “Our awareness of a camera has become a real factor in the world.”
[3] ebd.
[4] ebd.
[5] ebd.

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