Blood and Biscuits Everywhere


Der Mensch, so Aristoteles, ist ein zoon politikon. Ein soziales Lebewesen, das der Gesellschaft seiner Artgenossen bedarf. “If we can’t learn to live together, we’re gonna die alone”, propagierte auch Matthew Fox als Jack Shepherd in der TV-Serie Lost. Lange lebte das traditionelle Familienbild dabei fort, von Ehepartnern und Kindern. Doch inzwischen gibt es einen Wandel in der Gesellschaft. Nicht nur die Geburtenrate geht in Deutschland seit Jahren zurück, auch die Einpersonenhaushalte nehmen jährlich zu [1]. Rund 16,5 Millionen gibt es von ihnen, zieht man von den 80 Millionen Einwohnern Deutschlands die rund zehn Millionen Kinder bis 14 Jahren ab, lebt somit fast jede/r vierte Bürger/in alleine.

Dabei natürlich nicht unbedingt als Single – 4,4 Millionen Bürger geben sich als überzeugte Singles aus [2] –, aber dennoch scheint eine Rückkehr zum Mensch als Individuum voranzuschreiten. Das Für und Wider von Partnerschaft und Singledasein hat sich auch der griechische Auteur Yorgos Lanthimos für seinen jüngsten Film The Lobster zum Thema gemacht. In diesem steht die partnerschaftliche Gemeinschaft in der Gesellschaft über allem. Zugleich lotet Lanthimos aus, welches Verständnis von Partnerschaft das menschliche Denken bestimmt – und dabei einschränkt. Wie in seinen Vorgängern Kynodontas und Alpeis verpackt er seine soziale Metapher in ein absurd-komisches Gewand.

Bereits der Beginn des Films ist charakteristisch, wenn eine namenlose Frau durch die Landschaft fährt, um schließlich auf einer Wiese zu halten, auszusteigen und einen Esel mit mehreren Schüssen niederzustrecken. Lanthimos hält sich in The Lobster nicht mit Zusammenhängen auf, der Kontext des Films erschließt sich dem Zuschauer in seinem Verlauf. Das Publikum wird also direkt in Lanthimos’ Zukunftsszenario geworfen, in welchem der Bierbäuchige Architekt David (Colin Farrell) von seiner Frau für einen anderen Mann verlassen wird. “Does he wear glasses or contact lenses?”, will der Brillenträger von seiner verflossenen Gattin wissen. Um kurz darauf mit seinem Hund Bob in ein Hotel überführt zu werden.


In jenes an der Küste gelegene Hotel müssen all die einchecken, die Single sind. Dort haben sie 45 Tage Zeit, um sich unter den Gästen einen neuen Partner zu suchen. Finden sie keinen, werden sie in ein Tier ihrer Wahl verwandelt und im benachbarten Wald ausgesetzt. Als solches, so die Hotelmanagerin (Olivia Colman), ließe sich dann immer noch ein Partner finden. Aber auch, wenn das Hotel mit seinen Sport- und Schwimmanlagen wie ein gemütliches Spa wirkt, hat es mehr den Charakter eines Gefängnisses. Bei der Ankunft müssen die Gäste sich hinter einer weißen Linie ausziehen und werden mit neuen, uniformen, Kleidern ausgestattet. Zugleich gilt es für sie, die verschiedenen Regeln zu folgen.

Grundsätzlich betrachtet ist das Fundament der Sozialmetapher von The Lobster also ein Überlebensdrama. Blickte David am einen Tag noch seinem 12. Ehejahr entgegen, bleiben ihm am nächsten nur sechs Wochen, um für seine menschliche Existenz zu kämpfen. Hierbei wählen die Hotelgäste unterschiedliche Herangehensweisen. David fokussiert sich zuerst auf eine junge Frau (Jessica Barden), die unter Nasenbluten leidet. Sie hat jedoch auch sein Bekannter, John (Ben Whishaw), ins Auge gefasst. Schon etwas verzweifelter gibt sich eine Frau mittleren Alters (Ashley Jensen) mit Faible für Butterkekse, während eine emotionslose Dame (Angeliki Papoulia) sich mit dem Hotel arrangiert hat.

In regelmäßigen Abständen werden die Hotelgäste in den Wald geschickt, um dort mit Betäubungsgewehren die darin hausenden Singles zu jagen. Wer sich erfolgreich zeigt, bekommt eine Verlängerung seiner Frist – im Falle der kaltherzigen Frau kann diese auf ein halbes Jahr anwachsen. Entsprechend wenig Engagement und Not legt sie an den Tag, um einen Partner zu finden. Nicht alle Gäste zeigen jedoch derartiges Jagdtalent, darunter auch ein lispelnder Gast (John C. Reilly), der nicht vom Masturbieren lassen kann, obschon es untersagt ist. Bereits im Hotel präsentiert Lanthimos ein Partnerschaftsverständnis, wie es in der Gesellschaft nicht selten ist: Beziehungen bauen auf Ähnlichkeiten auf.


So bezeichnet John sein Hinken als “my defining characteristic”. Auch seine vor einer Woche verstorbene Frau hinkte und er wird von David mit Bedauern bedacht, als sich ein Hinken einer später neu zum Hotel hinzustoßenden Dame lediglich auf einen verstauchten Knöchel zurückführen lässt. Letztlich täuscht John ein Nasenbluten vor, um mit dieser Gemeinsamkeit den Schwarm von David für sich zu gewinnen. Nicht zuletzt wohl auch deswegen, weil er sich der Folgen einer gescheiterten Partnersuche bewusst ist. Als sein Vater einst seine Mutter verstieß – für jemand, der besser in Mathematik war – und diese im Hotel niemanden fand, erwartete sie ein Schicksal als Wolf und ein Dasein im Zoo.

Auch David weiß um die Hotel-Konsequenzen, ist sein Hund Bob doch eigentlich sein Bruder, der bei seinem eigenen Hotelbesuch vor einigen Jahren ebenfalls erfolglos blieb. David selbst hat für sich ein Leben als Hummer auserkoren, sollte seine Partnersuche scheitern. Die Tiere würden bis zu 100 Jahre alt und blieben ihr ganzes Leben lang fruchtbar – so seine Begründung. Doch Davids Versuche zum Anbandeln verlaufen nicht einwandfrei und so muss er zur Mitte des Films hin die Flucht in den Wald ergreifen. Lanthimos wechselt somit die Szenerie – nicht aber die Thematik. Denn im Wald, so erfährt David von der Anführerin der Einsamen (Léa Seydoux), existieren wie sich zeigt ähnliche Regeln wie im Hotel.

Wo dieses Partnerschaften befürwortet, sind sie unter den Einsamen verboten. Selbst Flirten kann zu schmerzvollen Strafen führen, die Welt des Waldes ist somit ein verkehrtes Bild des Hotels. Gemeinsam einsam lautet das Motto. “You can be a loner until the day you die”, klärt die Anführerin David auf. “There is no time limit.” Zugleich gewinnt sie David für eine Rebellion mit einem Helfer (Michael Smiley) und einer kurzsichtigen Frau (Rachel Weisz) gegen das Hotel. Und während dies geschieht, nähern sich die Figuren von Farrell und Weisz an – natürlich basierend auf ihrer gemeinsamen Kurzsichtigkeit. Im Universum von Lanthimos’ The Lobster haben nur die eine Zukunft, die Charakteristika teilen.


Das gilt für das Große wie das Kleine. In der Gesellschaft – oder der Stadt – kann nur leben, wer sich der partnerschaftlichen Gemeinschaft verschreibt. Wie auch die Einsamen im Wald strikte Regeln haben, die sie ihren Mitgliedern auferlegen. Beispielsweise die regelmäßigen Tanzabende, in denen jeder dann mit einem Discman Musik hört. “We all dance by ourselves”, klärt Léa Seydouxs Figur Neuankömmling David auf. “That’s why we only play electronic music.” Die Einsamen pflegen ihre Freiheit, allein zu sein; auch wenn viele Mitglieder wie David im Hotel womöglich in einer Aufführung der Angestellten in überstilisierter Form gesehen haben, welche Folgen eine solche Entscheidung haben kann.

Mit dem Wechsel in den Wald baut The Lobster allerdings zugleich qualitativ etwas ab. Welche Ziele Seydoux’ Figur bezweckt, werden nicht wirklich klar. Genauso, was es mit ihren Ausflügen in die Stadt zu ihren Eltern auf sich hat, zu denen sie ihre Mitstreiter stets mitbringt. Immerhin bieten die Besuche den Figuren von Farrell und Weisz die Chance, ihre heimlichen romantischen Gefühle füreinander unter dem Deckmantel einer falschen Identität auszuleben. Was im Verlauf – wie so vieles in Lanthimos’ Film – absurde Züge annimmt. “We have to be totally synchronized”, appelliert David später an seine Liebste. Und reagiert eifersüchtig, als diese Kontakt mit einem anderen kurzsichtigen Mann hat.

Die Botschaft des Films ist, dass Menschen ihre Beziehungen zueinander auf Gemeinsamkeiten aufbauen. Lanthimos karikiert dabei das traditionelle Familienbild als Ganzes. “If you encounter any problems, any tensions, any arguments that you cannot resolve yourselves you’ll be assigned children. That usually helps”, gibt die Hotelmanagerin einem frischgekürten Paar Ende des ersten Akts mit auf den Weg. Liebe ist im Kosmos von The Lobster zweitrangig – etwas, das sich selbst auf Davids Beziehung zu Bob anwenden ließe. Empfindet er für diesen aufrichtig Liebe oder resultieren seine Gefühle aus der Gemeinsamkeit, dieselben Eltern (und womöglich Eigenschaften) besessen zu haben?


Das Thema von The Lobster steht dabei letzten Endes über seinen Figuren. Diese bleiben für uns laufende Charaktereigenschaften, ohne dass der Zuschauer wirklich Einblick in eine von ihnen erhält. So suggeriert zumindest eine Entscheidung der Einsamen-Anführer gegen Ende, dass sie vielleicht selbst Gefühle für David entwickelt hat. Ähnliches könnte man mutmaßen, wenn es um eine der Hotel-Angestellten (Ariane Labed) geht. Nicht jeder Zusammenhang wird klar, außer dass Beziehungen zwischen Mensch und Tier (Seydoux’ Figur sucht in einer Szene Kontakt zu einem Schwein) wohl eine tiefere emotionale Bedeutung haben, siehe David und Bob oder die Eselsmörderin zu Beginn.

Yorgos Lanthimos verpackt seinen Sozialkommentar wie schon in seinen früheren Filmen erneut in ein schwarzhumoriges, absurdes Kleid. The Lobster ist ein Film, der immer wieder zum Lachen einlädt, gerade wenn er selbst seinen Figuren eine Bühne bietet. Wunderbar fotografiert und liebevoll inszeniert (vereinzelt bahnen sich im Bildhintergrund Flamingos oder Kamele ihren Weg durch den Wald), gelingt es dem starken Ensemble um den eindrucksvollen Colin Farrell, ihre skizzenhaften Charaktere mit Leben zu füllen. Besonders die Lanthimos-Veteraninnen Papoulia und Labed stechen heraus, aber auch Ashley Jensens tragische Figur bleibt einem nach Sichtung des Filmes in Erinnerung.

Am nachhaltigsten wirken jedoch die Ideen und Themeninterpretationen von The Lobster, in dem sich Lanthimos wieder mal bemühte, originell zu sein. Was man in den heutigen Zeiten von filmischer Konformität ohnehin nicht hoch genug schätzen kann. Vielleicht mit zwei Stunden einen Tick zu lang und an der ein oder anderen Stelle etwas zu kryptisch geraten, ist dem Griechen nichtsdestotrotz ein filmisches Meisterwerk gelungen, das nach vielen Wiederholungssichtungen verlangt und diese zugleich belohnt. Am Schluss wartet trotz aller Strapazen – in gewisser Weise – ein Happy End, getreu den Worten von Bob Marley: “Truth is, everybody is going to hurt you: you just gotta find the ones worth suffering for.”


Quellenangaben:

[1] vgl. http://de.statista.com/statistik/daten/studie/156951/umfrage/anzahl-der-einpersonenhaushalte-in-deutschland-seit-1991/.
[2] vgl. http://de.statista.com/statistik/daten/studie/173640/umfrage/lebenseinstellung---single-aus-ueberzeugung/.

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