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Es heißt ja immer so schön, man lerne fürs Leben und nicht für die Schule. Dennoch sind viele Bildungseinrichtungen ziemlich rigide in ihrer bürokratischen Struktur. Sechs Semester Zeit für den Bachelor-Abschluss, mit einer klar vorgegebenen Anzahl Semesterwochenstunden in bestimmten Bereichen. Da gilt es abzuwägen und auszuwählen, welches Seminar besucht werden muss und was zeitlich möglich ist. So verlief zumindest seinerzeit mein Bachelor-Studium, das nicht wirklich Raum zum Entdecken und zur Entfaltung bot. Und laut Amanda Wilders Texttafel zu Beginn ihrer Dokumentation Approaching the Elephant ging dies im Jahr 1901 den Anarchisten in Barcelona nicht ganz unähnlich.

Aus Protest gegen das Bildungsmodell, das Fabrikarbeiter produzieren sollte, gründeten sie eine so genannte “free school”, die sich der demokratischen Bildung verschrieb. Schüler sollten eine größere Entscheidungsfreiheit über die Organisation ihrer Schule und das eigene Lernen erhalten. Es obliegt den Kindern, zu entscheiden was sie wann und wo wie mit wem lernen möchten – falls sie überhaupt etwas lernen möchten. Gezwungen wird niemand zu nichts und Noten gibt es auch keine. 261 solcher Schulen gebe es weltweit, informiert Approaching the Elephant zu Beginn. Wilder begleitete in ihrem Film das erste Schuljahr der Teddy McArdle Free School, die zur 262. solchen Schule werden wollte.

Dabei kommt die Dokumentation sehr traditionell daher, im 4:3-Format und in Schwarzweiß gedreht, verzichtet sie auf ein Einordnen oder Talking Heads und beobachtet schlichtweg das Geschehen an der Teddy McArdle Free School. Das Ergebnis sieht dabei so aus, wie man es erwarten würde: an einen normalen Unterricht ist nicht zu denken. Aber eben das ist auch die Idee. Die Kinder reagieren auf ihre Freiheit in unterschiedlicher Form. Während der Querulant Jiovanni unentwegt seine Grenzen austestet, sind andere Kinder durchaus an Bildung interessiert. “I was thinking maybe we should do some classes”, schlägt beispielsweise die kleine Lucy an einer Stelle in Form eines Antrags vor.


Derartige Anträge sieht man im Verlauf des Films öfter. Klaut das eine Kind dem anderen seinen Platz und kriegt dafür eine ins Gesicht, wird ein Treffen anberaumt. Wer etwas sagen will, muss sich melden, Täter und Opfer schildern ihre Sicht der Dinge und Gefühle, die anderen können ihre Meinung zu dem Vorfall äußern. Nicht immer klappt dieses demokratische Selbstverständnis reibungslos. “Order, order, order”, appelliert Schulgründer Alex Khost an einer Stelle vergeblich. “Can I have everyone’s attention for five seconds?”, fragt er in einer anderen Szene. “No”, lautet die lapidare Antwort seiner Schüler. Aus der Demokratie kann so mal auch ganz schnell eine Anarchie werden.

Es sei nicht leicht, den Grundgedanken der freien Entfaltung mit traditionellen Bildungsmaßstäben zu verknüpfen, sagte Barbara Mergner vom Thüringer Institut für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien [1]. Auch in Approaching the Elephant zeigt sich dies. In Alex’ Werkunterricht dürfen die Kinder mit Sägen hantieren, was nicht jeden Grundschüler überzeugt. “I don’t think my parents would let me”, äußert Lucy Zweifel. Die Vorstellung, keiner erwachsenen Autorität zu unterstehen, sondern mit ihr auf Augenhöhe zu sein, gelingt manchen besser als anderen. Für die Anhänger von Reformpädagogik und demokratischer Bildung ist diese fehlende Kontrolle von oben entscheidend.

„Wenn Kinder sich nicht respektiert fühlen, dann lernen sie auch nicht“, sagte Wolfgang Harder, ehemaliger Rektor der berüchtigten Odenwaldschule und Gründer der Reformschulen-Initiative BÜZ einst im Interview mit der taz [2]. In Amanda Wilders Dokumentation sehen wir von tatsächlichem Lernen allerdings wenig bis nichts. Die meiste Zeit tollen die Kinder durch die Gänge ihrer Schule oder im Freien, gelegentlich bauen sie auch an einem Baumhaus im Inneren, wenn sie nicht gerade über Vorfälle abstimmen. Im Zentrum dieser Vorfälle steht dabei immer wieder Jiovanni, der insbesondere Alex Khost wiederholt mit wenig Respekt begegnet, auch mal den Mittelfinger gegenüber diesem zückt.


„Ich würde sagen, diese Schule ist geordnetes Chaos“, meinte die 15-jährige Camille gegenüber der Deutschen Welle. Seit sie fünf Jahre alt war ging Camille auf die Jenaplanschule in Jena, die in Deutschland zu den Einrichtungen mit demokratischer Bildung gehört [3]. Zugleich nannte Camille ihr Schulerlebnis „ein besseres Lernen, für die Persönlichkeit“ [4]. Ähnliche Erfahrungen machten Schüler der Summerhill Schule im englischen Suffolk. “A small place but a big idea”, beschreibt Schriftsteller Hussein Lucas den Besuch dort [5]. Viele Jugendliche würden eine erstaunliche Selbstkompetenz lernen und im Vergleich zu Altersgenossen reifer und erwachsener daherkommen, so der Tenor.

Wer an seiner eigenen Bildung partizipieren darf oder besser gesagt soll, lernt sicher, verantwortungsvoller zu sein. Falls ein Interesse an Bildung besteht und die Freiheit (in Wilders Film stürmt ein Kind aus dem Raum und schreit “Freedom!”, ein anderes verabschiedet sich mit dem Satz “I’m going to go and have fun, okay?”) nicht zur Freizeit missbraucht wird. Die Frage ist, was die Jugendlichen, die so demokratisch in Entscheidungen miteinbezogen wurden, später im Leben machen. Wenn sie in einer Firma oder Ausbildung arbeiten, in denen ein Chef – oder mehrere – den Ton angeben und man mit Autorität konfrontiert wird, die man jahrelang in einer solchen Form nicht mehr kannte.

Welche Wege können diese Jugendlichen einschlagen? Die demokratische Schule Kapriole in Freiburg ist „als Grund-, Haupt- und Werkrealschule genehmigt“, heißt es auf der Homepage [6]. Will ein Jugendlicher einen solchen, in der Berufswelt üblichen, Abschluss machen, kann er dies tun. „Notorisch schwierig und langwierig“ sei die staatliche Anerkennung für Freie Schulen [7]. Dasselbe gilt naturgemäß für eigene Abschlüsse. Statt Leistungsdruck in viel zu großen Klassen von Regelschulen bestimmen die Kinder selbst, was sie lernen. „Gelernt wird wie im Vorbeigehen“, schreibt Anwen Roberts [8]. Zuerst müssten die Kinder aber „regelrecht ,entschult’ werden, bevor sie wieder richtig lernen könnten“ [9].


Ähnlich sieht man das auch an der Teddy McArdle Free School. “They have to get all of this out of their systems”, meint ein Kollege von Alex Khost hinsichtlich der tobenden Kinder. Und Alex selbst mutmaßt, es könne 20 Jahre dauern, ehe man sieht, ob ihr Projekt erfolgreich verlaufen sei. Amanda Wilder selbst lässt sich in ihrer Dokumentation zu keinem Urteil hinreißen. Und überlässt dem Zuschauer eine Einschätzung. Zwei Jahre begleitete sie verschiedene Schultage an der Teddy McArdle Free School, repräsentativ ist der Film, der durchaus eine gewisse Dramaturgie entwickelt, für das tatsächliche erste Schuljahr somit nicht. Was eine Einschätzung des Publikums zum Free-School-Konzept nicht leichter macht.

Grundsätzlich kann eine Freie Schule durchaus funktionieren – was aber vermutlich abhängig von den Schülern ist, die sie besuchen. In Fällen wie Jiovanni scheint das Konzept verschenkt, während Kinder wie Lucy durchaus einen Reifeprozess in Approaching the Elephant erkennen lassen. Sie beruft auch mal eine Versammlung mit einem Vorwurf gegen Alex selbst ein, wenn sie glaubt, der behandele Jiovanni ungerecht. Dabei ist der Knabe ihr gegenüber nicht gerade der Netteste. Als die Mehrheit ihn dann zeitweise von der Schule suspendiert, ist es ebenfalls Lucy, die dies bedauert. Alles sei viel langweiliger ohne den egozentrischen Mitschüler, klagt das blonde Mädchen gegenüber Alex.

Eben weil Amanda Wilder auf das Instrument der Talking Heads verzichtet, erscheint eine Einordnung der Entwicklung der Kinder – von denen wir ohnehin nur Lucy und Jiovanni wirklich begleiten – wie man sie aus der Up-Serie kennt, kaum möglich. Eine fundierte Meinung zu Freien Schulen und demokratischer Bildung kann somit nicht gefällt werden. Zumindest ich selbst bin angesichts dessen, was Approaching the Elephant festhält, doch etwas skeptisch ob des Erfolgs eines derartigen Modells. Ohne dessen mögliche Qualitäten abstreiten zu wollen. Immerhin scheint etwas in Bezug auf die Freien Schulen dann aber wohl doch sicher: Dort lernen die Kinder fürs Leben und nicht für die Schule.


Quellenangaben:

[1] o.A.: Reformschulen kritisch gesehen, in: BR, 12.8.2014, www.br.de/themen/wissen/reformpaedagogik-kritik100.html.
[2] Füller, Christian: „Gute Schule ist machbar“. Reformschulen-Initiative „Blick übern Zaun“, in: taz.de, 20.05.2008, www.taz.de/!5181860/.
[3] Arnold, Ronny: Eine Schule zum Mitmachen, in: Deutsche Welle, 29.10.2012, www.dw.com/de/eine-schule-zum-mitmachen/a-16332018.
[4] ebd.
[5] Cassidy, Sarah: Summerhill alumni: “What we learnt at the school for scandal”, in: Independent, 22.10.2011, www.independent.co.uk/news/education/schools/summerhill-alumni-what-we-learnt-at-the-school-for-scandal-2373066.html.
[6] www.kapriole-freiburg.de/deutsch/vorträge/abschlussvariationen/.
[7] Roberts, Anwen: Schule mal ganz anders: „Wer will, kann zehn Jahre im Baum hocken“, in: Spiegel Online, 11.2.2010, www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/schule-mal-ganz-anders-wer-will-kann-zehn-jahre-im-baum-hocken-a-666948.html.
[8] ebd.
[9] ebd.

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