What happens in college, stays in college


Wer sich als Amerikanerin für die Armee verpflichten lässt, geht das berufsbedingte Risiko ein, von einem seiner Kameraden vergewaltigt zu werden. Dieses Statement entlockte Regisseur Kirby Dick vor einigen Jahren in seiner Dokumentation The Invisible War, die sich mit den Vergewaltigungszahlen innerhalb der US-Truppen befasste. Wie sich nun in The Hunting Ground zeigt, hilft es jungen Amerikanerinnen aber auch keineswegs, der Armee fernzubleiben und dafür an die Hochschulen zu gehen. Denn auch dort wird jede Fünfte von ihnen in ihrem ersten Uni-Jahr zum Opfer eines sexuellen Übergriffs [1]. Somit eine ähnlich hohe Betroffenheit wie bei den weiblichen Soldaten in der Armee.

Auch sonst gleichen sich die Verhältnisse – bis hin zu Schweigen der Verantwortlichen und dem Schützen der Täter. “What happens in college, stays in college”, zitiert die Dokumentation zu Beginn einen Dekan in seiner Ansprache an die neuen Studenten. Und könnte wahrere Worte wohl nicht sprechen. “Two of us were sexually assaulted before classes even started”, berichtet Annie Clark von ihrem Besuch der University of North Carolina at Chapel Hill. Sie meldete den Vorfall – ohne Ergebnis. Sechs Jahre später sollte Kommilitonin Andrea Pino dasselbe Schicksal ereilen. Dass beide Frauen ihre Vergewaltigung meldeten, ist dabei eine Seltenheit. Fast neun von zehn Studentinnen tun dies derweil nicht.

“Rape is a scary word”, sagt Andrea Pino. “You don’t want to fall into a category.” Die ersten sechs Wochen zwischen Orientierung und der ersten Ferienunterbrechung gelten als so genannte “red zone” [2]. Der Zeitraum, in dem Studienanfänger am ehesten Gefahr laufen, sexuell missbraucht zu werden [3]. Die Mädchen befinden sich in einer neuen Umgebung, bauen ihre sozialen Kontakte gerade erst auf. Der Täter ist hier kein Unbekannter, sondern jemand aus dem Alltag. “It’s the people you do know you should be worried about”, sagt Autorin Danielle Dirks [4]. “The number of victims is endless”, beschreibt ein Täter, der in The Hunting Ground zu Wort kommt. Das Vorgehen ist dabei kalkuliert.


Alkohol spielt eine zentrale und doppelte Rolle. Da Studentinnenverbindungen keinen Alkohol ausschenken dürfen, erklärt eine befragte Frau in The Hunting Ground, müssen Studentinnen, wenn sie Alkohol konsumieren wollen, zu den Feiern ihrer männlichen Verbindungskollegen gehen. Dort wiederum würden die Getränke mit Drogen versetzt, welche die Frauen gefügiger machen sollen, wenn man sie in ein Hinterzimmer oder separaten Bereich bringt. “Rape is like a football game”, bekam Annie Clark von einer Universitätsangestellten gesagt, als sie dieser ihre Vergewaltigung meldete. Was hätte die junge Studienanfängerin selbst tun können, um dem Ereignis einen anderen Ausgang geben zu können?

Wie auch die Soldatinnen in The Invisible War berichten die vergewaltigten Studentinnen, dass ihnen Vorwürfe für ihre Übergriffe gemacht wurden. Waren sie zu aufreizend angezogen? Hatten sie zu viel Alkohol getrunken? Vermittelten sie den Eindruck, sie wollten mehr? Vorausgesetzt, die Hochschulverwaltung nimmt den Vorfall überhaupt für voll. “There was this extreme reluctance to believe me”, schildert Kamilah Washington ihr Erlebnis, nachdem sie und eine Freundin von einem Kommilitonen sexuell missbraucht wurden. “Just because a woman says ‚no‘ and you have sex automatically you’re a rapist?”, fragt ein Student ungläubig in einer Fernseh-Archivaufnahme bezeichnenderweise.

Ähnlich scheinen es die Hochschul-Verantwortlichen zu sehen, erstaunlicherweise selbst oft mit Frauen an der Spitze. Zum einen existiere der Wunsch, das Problem intern zu lösen, verrät eine leitende Angestellte. “It could be bad for everyone”, teilte die Harvard University einer Studentin mit, als sie eine Vergewaltigung melden wollte. Zu 135 sexuellen Übergriffen soll es in Harvard allein zwischen 2009 und 2013 gekommen sein – also 27 Vorfällen pro Jahr. Zehn mal sprach die Universität eine Suspendierung aus. Ebenso viele Übergriffe ereigneten sich an der University of North Carolina zwischen 2001 und 2013. Zu Exmatrikulationen kam es nie. Bestraft wurde mit eintägigen Suspendierungen oder $25 Strafe.


Die Vergewaltigung war schon schlimm, aber wie man danach behandelt wurde, war noch schlimmer – so würden es viele Betroffene laut Annie Clark schildern. Von Medien mit Vorwürfen konfrontiert vermelden die Elite-Hochschulen stets dasselbe: man nehme diese sehr ernst. Nur: Gehandelt wird in der Regel nie. Lediglich jede fünfte Vergewaltigung wird laut dem FBI juristisch verfolgt. Niemand will ein großes Aufheben machen, speziell wenn man bedenkt, wer in der Regel die Täter sind. Weniger als acht Prozent der Männer verüben über 90 Prozent der Übergriffe, heißt es in The Hunting Ground. Ein Großteil dieser Männer zählt zu den Hochschulathleten und/oder einer Studentenverbindung.

So wurde monatelang eine Ermittlung gegen einen Football-Spieler verschleppt, weil dieser das vielversprechendste Talent im College Football war. Genauso fällt es Universitäten schwer, gegen Studentenverbindungen vorzugehen, wo deren Alumni später mit Spenden für einen Großteil der Hochschulverwaltungskosten aufkommen. Wer will schon die Hand beißen, die einen füttert? Und sich öffentlich bloßstellen als Campus, auf dem sich Vergewaltigungen ereignet haben? Die Opfer werden diskreditiert oder zum Schweigen gebracht, schließlich sind sexuelle Übergriffe nicht neu, “it’s just that no one was talking about it” bis das Internet und Twitter daherkamen und eine Öffentlichkeit schafften [5].

Dabei sind Vergewaltigungen oder sexueller Missbrauch an Hochschulen sicherlich kein originär US-amerikanisches Problem. Basierend auf einer Befragung durch die Sozialwissenschaftlerin Katrin List gaben rund drei Prozent von deutschen Studentinnen an, ebenfalls Opfer sexueller Gewalt geworden zu sein – aus denselben Gründen wie in den USA [6]. Nur ist der Umgang mit solchen Vorfällen hierzulande ein anderer. Das Ausmaß der Diskreditierung der Opfer ist in den USA, basierend auf den in der Dokumentation abgebildeten Reaktionen, enorm. Als ob es eine Motivation für die Dutzende junger Frauen gebe, einen Kommilitonen fälschlicherweise einer Vergewaltigung zu beschuldigen [7].


Die schockierenden Tatsachen und Reaktionen sind dabei in The Hunting Ground so überzeugend wie bereits in The Invisible War. Hierin findet sich jedoch zugleich auch einer der Kritikpunkte: es wirkt letztlich so, als hätte Kirby Dick schlicht ein Remake seiner Vorgänger-Dokumentation in neuem Setting gedreht. Wir haben Talking Heads von Betroffenen – darunter nicht nur Frauen, sondern wie in The Invisible War ebenfalls auch Männer –, die ihre Vergewaltigung schildern und wie sie Hilfe suchten und als Querulant abgetan wurden. Es gibt eine Petition, irgendwann auch mal durch genug Aufmerksamkeit eine Reaktion aus Washington, am Ende sind beide Dokumentationen somit Schwesternfilme.

Man mag es Dick zu Gute halten, dass es verständlich erscheint, die Formel nicht zu ändern, die beim thematisch identischen Kollegen so gut funktionierte. Allzu originell ist es jedoch auch nicht. Immerhin endet The Hunting Ground etwas positiver. Fast 140 Universitäten müssen sich Ermittlungen bezüglicher sexueller Übergriffe stellen [8] – mit ein Verdienst von Annie Clark, Andrea Pino und Co. „Sie rufen inzwischen so laut, dass Politik und Gesellschaft nicht mehr weghören können“, schrieb Spiegel Online über den Aufstand der Opfer [9]. In der Hoffnung, dass sich auch tatsächlich etwas verändert. Und damit Harvards Werbe-Jingle (“Anything can happen”) in Zukunft möglichst positiv konnotiert bleibt.



Quellenangaben:

[1] Caspani, Maria: Rape on US university campuses reaches “epidemic” levels, in: Reuters, 22.5.2015, www.reuters.com/article/us-usa-women-rape-idUSKBN0O729820150522.
[2] Booth, Barbara: One of the most dangerous places for women in America, in: CNBC, 22.9.2015, www.cnbc.com/2015/09/22/college-rape-crisis-in-america-under-fire.html.
[3] ebd.
[4] “84 percent of the time the perpetrator is another student”, ebd.
[5] Sharp, Sonja: How campus rape became a national scandal, in: Vice, 14.5.2015, www.vice.com/read/how-campus-rape-became-a-national-scandal-513.
[6] Seifert. Leonie: „Viele Frauen denken, an der Uni passiert mir nichts“, in: Zeit Online, 12.6.2014, www.zeit.de/2014/25/sexuelle-belaestigung-universitaet-deutschland.
[7] siehe auch Sharp, Internet.
[8] siehe Booth, Internet.
[9] Lüpker-Narberhaus, Frauke: Vergewaltigung an US-Unis. „Unwillkommener physischer Kontakt“, in: Spiegel Online, 13.10.2014, www.spiegel.de/unispiegel/wunderbar/sofie-karaseks-kampf-gegen-vergewaltigung-auf-campus-a-994776.html.

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