Just Following Orders

Es ist vielleicht das berühmteste Comic-Mantra aller Zeiten: “With great power comes great responsibility”, wird Teenager-Held Spider-Man eingebläut. Macht bringt Verantwortung mit sich – und der will sich nicht immer jeder stellen. Der Mensch fühlt sich sicherer, wenn er die Verantwortung weitergeben kann. Nicht nur, aber auch, in Zeiten juristischer Haftbarkeit. Auch Nazi-Kriegsverbrecher wie Adolf Eichmann verwiesen wie dieser in seinem Prozess 1961 darauf, dass sie im Holocaust lediglich Befehle befolgt hätten. Doch schon Molière wusste: “It is not only for what we do that we are held responsible, but also for what we do not do.” Obrigkeitsgehorsam faszninierte auch den Sozialpsychologen Stanley Milgram.

Im selben Jahr wie Eichmanns Prozess in Israel führte Milgram, der selbst Familie im Holocaust verloren hatte, 1961 an der Yale University ein Sozialexperiment durch. Eine Person sollte dabei einem weiteren Probanten, der in Wahrheit ein Mitarbeiter Milgrams war, immer einen Stromschlag verpassen, wenn dieser bei einer Gedächtnisübung eine falsche Antwort gab. Beide Personen befanden sich jedoch nicht im selben Raum und die Stromschläge nahmen an Intensität zu, je häufiger der zweite Probant – „Schüler“ getauft – bei seinen Antworten falsch lag. Das eigentliche Testobjekt, der „Lehrer“, unterstand hierbei nur einem Versuchsleiter, der eingangs die Anweisung für das Experiment gegeben hat.

Was zuerst ohne großen Widerspruch verläuft, gewinnt an Widerwillen, je öfter der vermeintliche Schüler falsch antwortet und einen Stromschlag erhält. Einen solchen in Form von 45V erhielt auch der Lehrer zu Beginn, um ein Gefühl zu bekommen, was den Schüler erwartet. Mit fortschreitender Dauer – und steigender Voltstärke – nehmen die Klagen des Schülers zu und mit ihnen die Zweifel der wahren Testperson. Dennoch, bestärkt vom Versuchsleiter, folgen sie dessen Anweisungen, selbst wenn sie es nicht wollen. “He went all the way. Most of them do”, sagt Stanley Milgram, gespielt von Peter Sarsgaard, dem Zuschauer in Michael Almereydas Film Experimenter, der sich Milgrams Versuchen widmet.

Insgesamt 65% aller Teilnehmer hätten das Experiment zu Ende geführt, wenn der Schüler (im Film: Jim Gaffigan) mehrfach mit 450V – dem Zehnfachen dessen, was der Lehrer selbst erlebt hat – geschockt wird. Von 780 Testpersonen hätte, so verrät Milgram im Film, keine einzige nach dem Wohlergehen des Schülers gesehen. Auch wenn einige, genauer 35%, den Versuch zu einem bestimmten Zeitpunkt abbrachen. In Experimenter sehen wir davon nur einen, gespielt von Anton Yelchin, der seine Ablehnung dadurch begründet, dass er als Elektriker um die Schmerzen durch Stromschläge wisse. Der Großteil der Film-Probanten fügt sich aber – auch dank der Autorität des Versuchsleiters (hier: Edoardo Ballerini).

“So you accept all the responsibility?“, fragt einer der Lehrer den Versuchsleiter und bestätigt damit die These für Milgrams Versuch. Kann der Mensch die Verantwortung für sein Handeln einer anderen Person übertragen, entfremdet er sich derart von seinem Tun, dass er wider sein Gewissen vorgehen kann. “The individual yields to authority”, beschreibt Milgram im Film. “And in doing so becomes alienated from his own actions.” Die Testpersonen folgen lediglich Anweisungen und sehen sich dafür nicht für ihre Aktionen verantwortlich, obschon ihnen diese missfallen. Sie alle könnten das Experiment abbrechen, als der Schüler schmerzerfüllt aufheult oder sie um einen Abbruch bittet.

Almereydas Film widmet sich aber nicht nur dem Milgram-Experiment, sondern auch dessen wissenschaftlicher Rezeption. So setzte die American Psychological Association Milgrams Mitgliedschaft nach Veröffentlichung seiner Ergebnisse für ein Jahr aus. Und auch eine Festanstellung an der Harvard University, wo Milgram 1963 eine Stelle als Assistenzprofessor erhielt, blieb ihm versagt. “How do you justify the deception?”, fragt ihn eine Studentin seines Psychologiekurs in Harvard. Und Milgram erwidert ihr, dass es für ihn eher eine Illusion gewesen sei. Der Frage, ob die Vortäuschung verwerflich ist für einen erfolgreichen Verhaltensversuch, stellt sich Experimenter nicht. Auch war sie Gang und Gäbe.

Schon Milgrams Mentor Solomon Asch (im Film: Ned Eisenberg) griff in seinem Konformitätsexperiment zu den Folgen von Gruppenzwang auf Manipulationen zurück. Dennoch bringt die Vortäuschung Milgrams natürlich ihre Folgen mit sich. Experimenter zeigt dies – jedoch in einer etwas verschenkten Szene – als Milgram der Klasse im November 1963 vom tödlichen Attentat auf Präsident Kennedy berichtet und diese es für ein weiteres Experiment hält. Immer wieder muss sich Milgram mit den wissenschaftlichen Wellen, die sein Experiment schlug, auseinandersetzen. Almereyda zeigt dies in der zweiten Hälfte seines Films jedoch nur bedingt, wenn wir Milgram und seine Karriere in die siebziger Jahre begleiten.

Zwar reißt Experimenter weitere sozialpsychologische Experimente von Milgram an, geht dabei jedoch nicht derart in die Tiefe, wie diese auch nicht so interessant sind wie das ursprüngliche. Zudem gelingt es Almereyda nicht, den Zuschauer genug Einblick ins Innenleben des Wissenschaftlers zu geben – obschon der Film wiederholt mit unpassendem Brechen der Vierten Wand aufwartet. Welche Folgen hatte das Experiment und Milgrams Arbeit wirklich auf seine Ehe mit Alexandra (Winona Ryder) und die Beziehung zu seinen Kindern? Experimenter verliert sich hier im Verlauf der finalen Dreiviertelstunde etwas und untermauert zugleich, dass er nur so interessant ist, wie die Darstellung des Milgram-Experiments darin.

“Human nature can be studied but not escaped, especially your own”, sagt Sarsgaards Figur zu Beginn, verrät dem Publikum aber nur bedient etwas über ihren Charakter. Zuvorderst lebt Experimenter also von der Faszination des eigentlichen Experiments, auch wenn dies nicht die von Milgram erhofften Einblicke schenken will, wieso in Nazi-Deutschland der Holocaust möglich war. Das systematische Vernichten einer Rasse mit Obrigkeitsgehorsam zu erklären, wirkt zu billig. Almereyda widmet sich auch nicht dem Vergleich jenseits der Inspiration durch den Eichmann-Prozess. Dessen ungeachtet zeigt jedoch das Experiment, wie bereitwillig Menschen unter gewissen Bedingungen Dinge tun.

Ähnliche Erfahrungen machten Philip Zimbardo im Stanford-Prison-Experiment (1971) oder Ron Jones im Third-Wave-Projekt (1967). Auch Milgram kommt zum Schluss des Films zur Erkenntnis: “Sometimes a person’s actions depend equally on the situation you find yourself in.” Leichter ist es, allemal, wenn Verantwortung hierbei weitergeschoben werden kann. “Liberty means responsiblity. That is why most men dread it”, wusste schon George Bernard Shaw. Und egal, ob eine Obrigkeit einem Anweisungen gibt, die Verantwortung für das Handeln liegt bei der ausführenden Person. Denn “the ultimate authority”, sagte auch der Dalai Lama, “must always rest with the individual’s own reason and critical analysis”.


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