In ihrem Sonett The New Colossus schrieb Emma Lazarus: “Give me your tired, your poor, your huddled masses yearning to breathe free.” Eine Aufforderung, die seinerzeit auch in die Freiheitsstatue in New York City imprägniert wurde. Sie war es, welche die zahlreichen Immigranten aus Europa in früheren Zeiten in der neuen Welt willkommen hieß. Willkommen in einer neuen Zukunft, einem zweiten Anfang, von dem sich die Millionen Einwanderer ein besseres Leben versprachen. Im Mittelmeer gibt es keine Freiheitsstatue mit einer Willkommensinschrift für die zahlreichen Immigranten, die von Afrika kommend ein besseres Leben in Europa suchen. An symbolischen Bildern fehlt es deswegen jedoch keineswegs.
Am Rande Lampedusas türmen sich die Wracks gekenterter Flüchtlingsschiffe wie ein Mahnmal, schreibt Sonja Gillert [1]. Lampedusa ist über die Jahre „zum Symbol für das Elend der Flüchtlinge Afrikas geworden“ [2]. Mit am eindringlichsten wohl wegen einer Katastrophe, die sich am 3. Oktober 2013 ereignet hat. Über 100 Flüchtlings ertranken, als ihr Boot im Mittelmeer kenterte [3]. Bereits ein paar Tage zuvor war knapp ein Dutzend Menschen bei einem ähnlichen Versuch ums Leben gekommen [4], etwas mehr als eine Woche später sollten nochmals über zwei Dutzend Menschen ertrinken, darunter auch Kinder [5]. Ein Vorfall, den die Dokumentation Fuocoammare (dt. Seefeuer) festhält.
Es ist Nacht, als ein Funkspruch die Behörden Lampedusas erreicht. Flüchtlinge funken von ihrem Boot, dass dieses gekentert sei und sinke. Hilfe werde benötigt, immer wieder wird in brüchigem Englisch auf die Anwesenheit von Frauen und Kindern verwiesen. In der Hoffnung, so die Behörden zum Ausrücken zu bewegen. “What is your position?”, fragt der Funker wiederholt, um die Koordinaten des Bootes zu erhalten. Doch die Frage verhallt wie ein Echo in dem Anflug der Rettungsanfrage. Mit einem Scheinwerfer sucht ein Helikopter das Meer in der Dunkelheit ab. Einen Monat verbrachte Gianfranco Rosi auf dem Marineschiff Cigala Fulgosi, im Frühjahr gewann er auf der Berlinale den Goldenen Bären.
Für den Italiener war es wichtig, das Leben und den Alltag auf Lampedusa zu zeigen, jenseits der Medienwelle, die mit den gekenterten Flüchtlingsbooten auf die Insel schwappt. „Als ich dort lebte, verstand ich, dass der Begriff Katastrophe bedeutungslos war“, schildert Gianfranco Rosi. „Es gab jeden Tag eine Katastrophe. Jeden Tag passierte etwas.“ Und dennoch landet Lampedusa nur dann in den Nachrichten, wenn sich wieder mal vor ihrer Küste ein Drama abspielte. Und davon gab es in den vergangenen Jahren nicht wenige. Allein zwischen Januar und September 2014 gaben 165.000 Menschen „ihr Schicksal in die Hände von Schleppern und versuchten das Mittelmeer zu überqueren“ [6].
Nicht alle schafften es, rund 3.000 Flüchtlinge verloren in jenem Zeitraum ihr Leben [7]. Auch 2015 starben allein zwischen Januar und April etwa 1.600 Menschen beim Versuch, von Libyen aus Lampedusa zu erreichen [8]. Die Zahlen des Flüchtlingszustroms steigen seit über zehn Jahren [9], zeitweise lebten auf Lampedusa mit seinen zwei Auffanglagern mehr Flüchtlings als Einwohner [10], [11]. Dabei ist die Insel mit ihren 20 Quadratkilometern nur etwa so groß wie Amrum oder Langeoog [12], als erster Anlaufpunkt ist sie für die Flüchtlinge auf ihren Booten dennoch unabdingbar. Gut 130 Kilometer von Tunesien entfernt liegt Lampedusa immerhin näher an Afrika als Sizilien (205 Kilometer) [13].
Zahlen, für die sich Gianfranco Rosi nicht wirklich interessiert. Fuocoammare ist keine Dokumentation mit Fakten, sondern mit Eindrücken. Dabei einerseits an Bord der Cigala Fulgosi und bei Rettungsoperationen wie Mare Nostrum, wenn Flüchtlinge – lebend wie tote – von ihren Booten geborgen, untersucht und ärztlich betreut werden. Gleichzeitig widmet sich Rosi jedoch auch dem anderen Alltag auf Lampedusa: dem der Einwohner. So wie dem zwölf Jahre alten Fischerssohn Samuele, der mit einer Steinschleuder bewaffnet über die Insel tollt, wenn er nicht versucht, sich mit dem Seegang anzufreunden. Auch ein lokaler Radio-DJ ist einer von Rosis Protagonisten, genauso der Arzt Pietro Bartolo.
Immer wieder wechseln sich die Bilder ab, vom Drama auf See hin zum Pragmatismus an Land. Während seine afrikanischen Altersgenossen um ihr Überleben kämpfen, muss sich Samuele mit einem trägen Auge auseinandersetzen. Die Fischer der Insel hadern derweil mit ihrer Fangquote, ihre weiblichen Angehörigen schicken daher immer wieder aufmunternde Lieder über die lokale Radio-Station. Von dem Schicksal der Flüchtlinge, so scheint es, kriegen sie nur am Rande etwas mit. Oder haben sich mit der Zeit einfach an dieses gewöhnt. Als eine neuerliche Katastrophe in den Nachrichten vermeldet wird, seufzt eine ältere Frau nur kurz beim Kochen und spricht ihr Mitleid aus.
Für uns ist das Drama auf Lampedusa nur präsent, wenn wieder mal ein Unglück passiert. Für die Einwohner der Insel ist es allgegenwärtig – und damit womöglich Gewohnheit. Zwar sympathisieren sie „mit den Flüchtlingen, doch wächst zugleich der Ärger“ [14]. Auf ihre Kosten wird sich den Flüchtlingen gewidmet. Für die gebe es Geld, während die eigenen Schulen verfallen, der Müll nicht entsorgt wird [15]. Es fehlt an Bibliotheken, einem Krankenhaus. „Die Infrastruktur ist sehr schlecht“, schreibt Gillert [16]. Und das Versagen mit dem Umgang der Flüchtlingskrise schlägt sich zugleich negativ auf das Geschäft mit den Touristen nieder [17]. „Das Leben auf der Insel“, so Gillert, „ist nicht einfach.“ [18]
Kritik von Seiten der Bewohner kommt in Fuocoammare jedoch keine auf. Abgesehen von Bartolo wirkt keine der Figuren wirklich beeinflusst von der Flüchtlingslage. Vielmehr präsentiert uns Rosi eine andere Sicht auf Lampedusa als die, die wir durch die Nachrichtensituation gewohnt sind. Hier gibt es auch ein Leben abseits der Flüchtlinge, obschon diese inzwischen zur Insel dazugehören. So ist der Friedhof der Insel bereits „längst überfüllt durch die oft namenlosen Flüchtlinge“, die bei früheren Katastrophen ihr Leben verloren [19]. Während diese Namenlosen auf der Cigala Fulgosi mit Dehydrierung kämpfen, versucht sich Samuele auf Ruderbooten derweil seine Seekrankheit abzugewöhnen.
Rosi gelingt es, das nicht alltägliche Drama mit dem nichtdramatischen Alltag zu verknüpfen und dem Zuschauer den Blick auf Lampedusa in teils unwahrscheinlich nahen und bisweilen bestechend schönen Aufnahmen zu erweitern. Auch losgelöst von seiner aktuellen zeitgeschichtlichen Bedeutung ist die Auszeichnung bei der Berlinale somit durchaus verdient gewesen, steht Fuocoammare in gewisser Weise für sich. Und selbst wenn auf dem Weg zu Lampedusa keine Freiheitsstatue die Flüchtlinge aus Afrika begrüßt, versprechen sie sich durch die Ankunft auf der Insel doch allesamt den Status der Freiheit. Getreu der Jazz-Legende Miles Davis: “Always look ahead, but never look back.”
Quellenangaben:
[1] Gillert, Sonja: „Schau mal, das Meer, da lebt jetzt meine Mutter“, in: Die Welt, 3.10.2014, http://www.welt.de/politik/ausland/article132889175/Schau-mal-das-Meer-da-lebt-jetzt-meine-Mutter.html.
[2] ebd.
[3] vgl. Schlamp, Hans-Jürgen: Flüchtlingsdrama vor Lampedusa. Europas Versagen, in: Spiegel Online, 3.10.2013, http://www.spiegel.de/politik/ausland/lampedusa-mehr-als-hundert-fluechtlinge-sterben-schiffsunglueck-a-925999.html.
[4] ebd.
[5] vgl. o.A.: Unglück im Mittelmeer. Viele Tote bei neuer Flüchtlingskatastrophe vor Lampedusa, in: Spiegel Online, 11.10.2013, http://www.spiegel.de/panorama/lampedusa-erneut-boot-mit-200-fluechtlingen-gekentert-a-927455.html.
[6] Gillert, Internet.
[7] ebd.
[8] o.A.: Lampedusa, in: Wikipedia, o.J., https://en.wikipedia.org/wiki/Lampedusa.
[9] „2003 wurden 8.000 Flüchtlinge registriert, 2004 schon 13.000 und 2005 verzeichnete man über 20.000 illegale Einwanderer auf der Insel“, o.A.: Lampedusa, in: Wikipedia, o.J., https://de.wikipedia.org/wiki/Lampedusa.
[10] ebd.
[11] Kirby, Emma Jane: Why tourists are shunning a beautiful Italian island, in: BBC News, 13.2.2016, http://www.bbc.com/news/magazine-35540017.
[12] vgl. o.A.: Anlaufziel für Flüchtlinge. Warum Lampedusa?, in: Tagesschau.de, 3.10.2013, https://www.tagesschau.de/ausland/lampedusa-hintergrund100.html.
[13] vgl. Wikipedia (Deutsch).
[14] o.A.: Auf Lampedusa wächst die Wut auf Europa, in: RP-Online, 8.10.2013, http://www.rp-online.de/panorama/ausland/auf-lampedusa-waechst-die-wut-auf-europa-aid-1.3731699.
[15] ebd.
[16] Gillert, Internet.
[17] ebd.
[18] ebd.
[19] RP-Online, Internet.
Szenenbilder “Fuocoammare” © Weltkino Filmverleih. Alle Rechte vorbehalten.
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